Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Lagerhalle. Krüger hockte ihr gegenüber; die dickwandige Brille, die zu seiner Verkleidung als Bote gehört hatte, hatte er abgenommen. Hinter ihm erhob sich gespenstisch eine weiß verkleidete Bühne, die Aufbauten verloren sich in der Dunkelheit.
Die Mündung ihrer Heckler & Koch P 30 zeigte direkt auf ihr Gesicht. Der angespannte Ausdruck in Pauls Augen wich einem anderem Gefühl: Wut.
»Tut mir leid, das Klebeband ist abge …«, setzte Nora zur Entschuldigung an. Ihr Versuch lief ins Leere. Paul sprang auf, raste auf sie zu und holte mit der Waffe in der Hand aus.
Nora drehte reflexartig den Kopf zur Seite. Dann spürte sie einen harten Schlag und ein Knirschen unterhalb des rechten Auges. Der Schmerz raubte ihr den Atem.
»Ich habe Sie gewarnt!«, schrie Paul. Seine Stimme verebbte in der Dunkelheit, als Nora zum dritten Mal das Bewusstsein verlor.
Zu dem Kater, der Übelkeit und der Angst kam nun noch ein beständiges dumpfes Pochen hinzu, das seinen Ursprung in Noras rechter Gesichtshälfte hatte. Seit sie aufgewacht war, wünschte sie sich, Krüger würde sie mit einem weiteren Schlag ins Reich der Träume zurückschicken. Ihre Wange schmerzte und war geschwollen, sodass sie auf dieser Seite das Auge nur einen Spalt öffnen konnte. Vermutlich ist mein Kiefer gebrochen, dachte sie und wunderte sich zugleich über die Nüchternheit, mit der sie ihren Zustand analysierte. Erst als sie mit der Zunge über die aufgesprungene Oberlippe fuhr, verebbte das Geräusch, das einige Minuten lang den Saal erfüllt hatte: Sie hatte vor Kälte und Anspannung laut mit den Zähnen geklappert.
Immerhin konnte sie wieder etwas sehen. Krüger hatte sie vom kalten Betonboden auf die von ihm errichtete kleine Bühne gebracht. Nora konnte den Kopf nicht drehen, er musste ihn fixiert haben. Sie konnte nur erkennen, dass sie auf einem Stuhl oder Hocker saß, bis auf die Unterwäsche entkleidet, die Arme hinter dem Rücken zusammengebunden, die Füße an die Stuhlbeine gefesselt. Und obgleich sie die Schlinge nicht sehen konnte, spürte sie ihren unbarmherzigen Druck um ihren Hals. Am Rand der Bühne lag ein ordentlich aufgerolltes weißes Seil.
Ein Krampf kündigte sich in ihrem Oberschenkel an, eine Folge des langen unbeweglichen Sitzens, und sie spannte den Muskel an. Der Schmerz ließ nach. Anders als die Angst und das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit, die sie heftig aufschluchzen ließen.
Schritte klapperten, kamen näher, erklommen Treppenstufen. Krügers Gesicht schob sich in ihr Blickfeld. Um seine Augen lagen dunkle Ringe, er sah aus wie jemand, der unendlich müde war.
»Kann ich bitte etwas zu trinken haben?«, wimmerte Nora unter Schmerzen. Das geschwollene Gesicht und ihr trockener Mund verwischten ihre Aussprache. Sie hörte sich vermutlich an wie eine betrunkene, zahnlose Landstreicherin und sah wohl genauso aus.
Vielleicht hatte Paul Krüger sie wirklich nicht verstanden, vielleicht wollte er sie auch absichtlich quälen. Jedenfalls antwortete er mit einer Gegenfrage.
»Die PIN?« Er hielt ihr Handy hoch.
Nora versuchte ein Lächeln. Es tat furchtbar weh.
Paul packte die Heckler & Koch am Lauf und hielt sie wie einen Hammer hoch in die Luft. »Ich zähle bis drei, dann breche ich Ihnen die Nase. Eins …«
Nora verriet ihm ohne weiteres Zögern ihre Geheimnummer. Dann wurde sie von einem unkontrollierbaren Zittern überwältigt. Wenigstens hatte sie es versucht, Wider-stand zu leisten.
Paul machte sich an ihrem Handy zu schaffen. »Wo finde ich Kanthers Telefonnummer?«
Nora konnte die Überraschung in ihrem Gesicht kaum verbergen. Plötzlich fügten sich die Ereignisse der letzten Tage zusammen. Die Tatsache, dass Krüger sie, als Bote verkleidet, mit einem Paket von Kanther überfallen hatte. Der rosa Plüschhase. Der junge Mann, der ihr mit einem Lächeln im Gesicht direkt vor dem Kombucha entwischt war. Der gleiche junge Mann neben ihr im Bus.
»Es geht gar nicht um Agniezka, oder? Es geht um mich.«
Paul sah sie ausdruckslos an. Nein, nicht ganz ausdruckslos, in seinen Augen blitzte ein Funken Stolz auf.
»Das war nur ein Ablenkungsmanöver, stimmt’s? Die Polizei sollte sich auf das Mädchen konzentrieren, damit Sie es einfacher haben, mich zu schnappen.«
Krüger schüttelte verächtlich den Kopf. »Das hier ist kein Hollywoodfilm. Ich bin nicht der Böse. Und das ist nicht die Szene, in der der verrückte Serienmörder dem Opfer seine Motive erklärt.«
»Wenn Sie nicht der
Weitere Kostenlose Bücher