Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
wildesten Träumen hätte er nicht in Betracht gezogen, eines Tages auf Siegfrieds Hilfe angewiesen zu sein. Je länger er die Idee jedoch abwog, umso naheliegender schien sie ihm. Wenn jemand in der Lage war, es mit einem Geistesgestörten aufzunehmen, dann ein Psychopath wie Siegfried. Er besaß die Gabe, Menschen unter seine Kontrolle zu bringen, wie er mehrfach eindrücklich unter Beweis gestellt hatte. Feuer bekämpft man am besten mit Feuer. Es klang gefährlich banal. Denn einer wie Siegfried war beinahe noch schwerer zu kontrollieren als die ursprüngliche Gefahr.
Kanther holte das Telefonbuch aus der Kommodenschublade. Er hatte der Polizei erzählt, Siegfrieds Aufenthaltsort sei ihm unbekannt, aber das war eine Lüge gewesen. Er hatte sich einfach einen Ausweg offenhalten wollen. Bevor Siegfried aus seiner Wohnung verschwunden war, hatte er Kan-ther die Visitenkarte des Sukothai dagelassen. Dort könne er ihn im Notfall kontaktieren. Er solle nach dem Naga fragen.
Das Sukothai stand nicht im Telefonbuch, vermutlich war es brandneu. Kanther erfragte die Nummer bei der Auskunft und ließ sich durchstellen. Zwei Minuten lang ertönte das Freizeichen.
Bitte geh ran, bitte geh ran, bitte geh ran, flehte er lautlos. Dann kam das Besetztzeichen.
Kanther sah auf die Uhr: Fünf vor halb sechs. Kein Wunder, wenn dort niemand zu erreichen war. Auch der zweite und der dritte Anruf blieben unbeantwortet. Trotzdem rief er unbeirrt weiter an. Es war der einzige Weg, an Siegfried heranzukommen, und auch die einzig plausible Möglichkeit, Nora Winter zu retten. Es war der sprichwörtliche Stroh- halm und Kanther klammerte sich daran wie ein Ertrinkender.
Der sechste Versuch brachte endlich den ersehnten Erfolg. Eine gereizte Frauenstimme meldete sich. Kanther verlangte den Naga . Nach einer langen Denkpause ließ sie sich seinen Namen nennen.
Wenige Augenblicke später ertönte Siegfrieds Stimme aus dem Hörer. Er klang hellwach. Und misstrauisch. »Martin?«
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Am Samstagmorgen um halb sechs?«
»Du erinnerst dich an Herrmann Rittka?«
Siegfried lachte.
»Es gibt ihn wirklich, Siegfried. Ein ehemaliger Schüler von mir. Er hat eine junge Frau entführt und droht, sie umzubringen, wenn ich ihn nicht in einer Dreiviertelstunde in einer Halle in Bockenheim treffe.«
»Gefällt mir, der Bursche.«
»Das ist nicht die Zeit für Scherze, Siegfried. Bitte, ich schaffe das nicht alleine. Du musst mir helfen.«
»Ist sie deine Freundin?«
»Was spielt das für eine Rolle?«, brauste Kanther auf.
»Ist sie deine Freundin, ja oder nein?«, beharrte Siegfried auf seiner Frage.
Kanther dachte fieberhaft nach. »Sie ist … ja, sie ist meine Freundin.«
»Und was erwartest du von mir?«
»Sprich mit ihm. Du warst doch immer gut in solchen Dingen. Menschen zu überzeugen. Ich kann das nicht, ich bin gut im Schreiben, nicht im Reden.«
Siegfried schien zu überlegen. »Was springt für mich dabei heraus?«
Kanther schwieg. Was hätte er auch bieten können?
Nach einer Weile ertönte Siegfrieds gelangweilte Stimme aus dem Hörer. »Das ist doch totale Scheiße, Martin. Frag die Bullen. Die sind ganz scharf auf so etwas. Ruf hier nicht mehr an. Ich komme heute Nachmittag und hole den Koffer.«
»Siegfried, bitte!«, flehte Kanther. Und dann tat er etwas, für das er sich noch im selben Moment zutiefst schämte. Er hoffte inständig, dass man ihm sein schlechtes Gewissen nicht anmerkte.
» Du warst derjenige, der in meiner Wohnung von Freundschaft geredet hat«, schimpfte er. »›Ich habe viel über uns nachgedacht, was uns verbunden hat.‹ Das waren deine Worte. Was ist denn übrig von deiner Freundschaft, jetzt wo ich dich brauche? War das alles nur leeres Geschwätz?«
Kanther hörte Siegfrieds schweren Atem am anderen Ende der Leitung. Dann ein Räuspern. »Also gut, Martin. Dieses eine Mal. Ich hole dich am Merianplatz ab. Und bring den Koffer mit.« Er legte auf.
Siegfried an ihre Freundschaft zu erinnern, war eine aus der Not geborene Idee gewesen. Aber Siegfried hatte Kan-ther keine Wahl gelassen. Und überhaupt: Was spielte es noch für eine Rolle? Er hatte Siegfried schon längst ans Messer geliefert. Aber jetzt ging es um ein Menschenleben, das der Verrat vielleicht retten konnte.
Kanther schnappte seinen Trenchcoat, drückte ein Taschentuch auf die blutende Wunde an seiner Wange und richtete einen letzten Blick auf das Chaos im Flur. Er klaubte das Handy aus den
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