Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Polizist warf einen prüfenden Blick auf den Zellenbelegungsplan. Nummer sieben: Martin Kanther, Verdacht auf Mord, BTM. Er entsicherte den Verschlussring am Gürtel, legte die Hand auf den Knauf seines Schlagstocks, trat einen Schritt zur Seite und öffnete die Kontrollklappe. Hinter der Öffnung tauchte das bleiche und verstörte Gesicht des Häftlings auf.
»Ich muss dringend mit Kommissarin Winter sprechen. Dringend! Bitte!«, flehte er.
*
Agniezka Anghel bewohnte eine windschiefe Kommode im Apartment ihrer Mutter.
Vier Monate zuvor hatte die Großmutter urplötzlich die Augen über einer Schüssel Mamalyga verdreht und war in der nächsten Sekunde vornüber auf die Tischplatte gekippt. Es war erst das zweite Mal, dass Agniezka jemanden hatte sterben sehen. Onkel Dan, der seit dem russischen Wein-embargo auf den Handel mit gestohlenen Autos umge-stiegen war, hatte sie mit seinem Opel zum Bahnhof von Kischinau gefahren. Er hatte den Reißverschluss ihres Anoraks hochgezogen, ihr den rosafarbenen Kinderrucksack umgeschnallt und ihr neben einem kratzigen Kuss auf die Wange die besten Wünsche für ihre Mutter mitgegeben.
Bis zur rumänischen Grenze war das Mädchen mit einer Nachbarin gefahren. Von dort nach Wien mit deren Bekannter und dann weiter nach Deutschland mit einer anderen Bekannten. Die Frauen stammten alle aus demselben Dorf und trugen den gleichen Nachnamen wie Agniezka. Die Grenzbeamten im Zug hatten sie mürrisch gemustert, sie aber ohne weitere Rückfragen einreisen lassen.
Ihre Mutter Adriana erwartete sie mager und verfroren am Bahnsteig des Frankfurter Hauptbahnhofs. Als sie das Mädchen in die Arme schloss, sah sie alles andere als glücklich aus. Für ein sechsjähriges Mädchen zu sorgen. war das Letzte, was sie in ihrer Situation gebrauchen konnte.
Ein paar Tage später begann Agniezka daran zu zweifeln, dass ihre Mutter als Dienstmädchen bei reichen Leuten arbeitete. Sie verstand nicht, woher das Geld kam, das jeden Monat seinen Weg von Deutschland nach Moldawien gefunden hatte, wo die Baba es mit ihrem zahnlosen Lächeln erst liebevoll gestreichelt und dann unter der Matratze versteckt hatte. Aber sie begriff schnell, dass es etwas mit den Männern zu tun hatte, die ihre Mutter in dem kleinen Zimmer empfing. Wenn die Männer kamen, versteckte Agniezka sich in der Kommode neben dem Waschbecken. Je öfter und je länger sie sich versteckte, desto spendabler war ihre Mutter am Wochenende. Häufiges Verstecken verhieß Eis, ein neues T-Shirt oder bunte Haargummis.
Was in dem Zimmer wohl passieren mochte, während sie in dem Möbelstück kauerte? Ihre Mutter hatte ihr eingebläut, dass sie unter keinen Umständen durch das Schlüsselloch spähen durfte. Eine überflüssige Warnung, denn sie verhängte die Front der Kommode jedes Mal mit einem Schal.
So hockte Agniezka in ihrem Versteck, manchmal zehn, selten zwanzig, nie länger als dreißig Minuten. Lauschte dem Seufzen ihrer Mutter und dem Grunzen der männlichen Besucher. Wenn Adriana die Tür wieder aufschloss, hatte sie jedes Mal einen harten Zug um den Mund, der sich erst abends am Küchentisch löste, wenn sie das Geld zählte und es sorgfältig in einer alten Kaffeedose deponierte, die hinter einer losen Kachel im Bad verborgen war.
Mutter und Tochter mussten immer auf der Hut sein. Jederzeit konnte es klingeln: Keiner der Männer und keines falls die Zimmerwirtin, die täglich ihren Anteil des Verdienstes einforderte, durften erfahren, dass das Apartment außer Adriana noch eine weitere Person beherbergte. Sobald es klingelte, schloss sich die Kommodentür hinter dem Mädchen, und das Schloss knackte bei der Umdrehung des Schlüssels, als würde eine Falle zuschnappen.
Zur gleichen Zeit, als Gideon Richter in Börnies Eck mit dem Barkeeper parlierte, nahmen Agniezka und Adriana schweigend ihr Abendessen ein. Jede hing ihren Gedanken nach. In den letzten Tagen hatten sie kaum miteinander gesprochen.
Ihre Mutter wirkte angespannter als üblich und Agniezka spürte, dass es besser war, sie in Ruhe zu lassen.
Jemand klopfte – direkt an die Wohnungstür. Frau Vukovic und die anderen Mädchen verwendeten ein spezielles Klopfzeichen, es konnte also nur ein Kunde sein. Adriana warf vor Schreck beinahe ihren Teller zu Boden. Im Haus galt die Regel, dass Freier nicht ohne Ankündigung eingelassen wurden. Die Mädchen benötigten die kurze Zeitspanne, um sich vorzubereiten. Adriana schaffte es gerade noch rechtzeitig, ihre
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