Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
bereits eine halbe Nacht ohne Alkohol geschafft, jetzt würde er auch noch eine weitere halbe Nacht überstehen.
»Was möchten Sie? Kaffee, Wasser? Cola?«
Wortlos schob Kanther einen Stapel Blätter über den Tisch. Nora musterte seine Schrift: Die filigranen Striche und anmutigen Schwünge passten so gar nicht zu diesem grob wirkenden Klotz. Die handschriftlichen Notizen ließen zum ersten Mal etwas von der Begabung des Schriftstellers Martin Kanther erahnen. Mit welcher Hingabe er Buchstaben, Wörter und Sätze zu Papier brachte. Kein Wort durchgestrichen, keines korrigiert. Ein Text wie aus einem Guss.
»Haben Sie mich um halb drei aus dem Bett geholt, damit ich Ihr Geständnis lese?«
Kanther schüttelte müde den Kopf. »Lesen Sie. Bitte! Ich kann besser schreiben als reden. Dann unterhalten wir uns darüber.«
Nora nahm unwillig die Blätter auf und überflog den ersten Absatz. »Schreiben Sie das so druckreif nieder, direkt aus dem Gedächtnis?«
»Ich musste nicht lange überlegen. Seit meinem zehnten Lebensjahr trage ich diese Geschichte in meinem Kopf herum.« Kanther verschränkte die Arme vor dem Gebirge seines Bauchs. »Und leider nicht nur dort«, fügte er hinzu, den Blick in weite Ferne gerichtet, auf einen Punkt außerhalb der Mauern des Vernehmungszimmers.
Nora verkniff sich ein Lächeln. Sogar Seitenzahlen hatte er am unteren Rand eingefügt.
Mit annähernd zehn Jahren war ich bereit, meinen ersten Mord zu begehen.
Am Nachmittag des 12. Dezember 1975 stand Kuschke, der Steiger der Zeche Achenbach, vor der Tür. ›Dein Vater ist unten geblieben. Mit sechzehn anderen. Wir sorgen für euch.‹ Ich hing an der kraftlosen Hand meiner Mutter und fühlte überhaupt nichts; ich verstand kein Wort von dem, was der Steiger sagte.
Am nächsten Tag hatte ich begriffen, dass mein Alter nicht mehr nach Hause kommen würde, zerfetzt von einer Schlagwetterexplosion, also rannte ich hinüber ins Hutmannhaus. Ich wollte jemanden bestrafen. Ein Messer hatte ich in der Tasche und den festen Vorsatz, es Kuschke in die Brust zu stoßen. Aber dann sah er mich mit seinen verheulten Augen an. ›Martin, Junge, es tut mir so leid!‹
Statt das Messer herauszuholen, stand ich da, reglos wie die Bronzestatue, die sie Jahrzehnte später vor dem Zechentor aufstellen würden, und machte keinen Mucks. Das war eine Woche vor meinem zehnten Geburtstag.
Sechs Monate später kam ich aus der Schule nach Hause und fand auf dem Küchentisch neben einem Teller lauwarmer Suppe einen Abschiedsbrief. Mutter hatte sich im Badezimmer an einem Seidenschal erhängt, den Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Wenig später saß ich auf der Rückbank eines Opel Kapitän, auf dem Weg nach Bochum. Ich hatte keine Angst, die kam erst später, während der Nächte im Schlafsaal des Kinderheims, aber ich war zornig, weil beide mich im Stich gelassen hatten. Auf dieser Fahrt von Lünen nach Bochum, vorbei an den zum Sterben verurteilten Fördertürmen, schrieb ich die ersten Seiten, als Ventil für meine Wut. Die ersten Seiten im ersten Notizbuch von vielen.
Von Anfang an war ich im Albanus Kinderheim der Prügelknabe. Ich war mir meiner Größe und Stärke nicht bewusst. Das änderte sich erst, als sich am ersten Weihnachtsfeiertag die Flügeltür zum Speisesaal öffnete und Pater Seraphin mit seinem neuen Schützling hereinspazierte. Auf Siegfrieds sommersprossigem Gesicht lag ein wölfisches Grinsen. Wenige Stunden später wusste jeder im Albanus, dass er Heiligabend im Bochumer Jugendamt aufgetaucht war und den verdatterten Diensthabenden erklärt hatte, er habe seine Scheißfamilie satt. Natürlich war das eine Lüge. Denn die Familie bedeutete ihm alles. Dennoch war und blieb er das einzige Kind, das sich quasi selbst ins Heim eingewiesen hatte.
Er hatte wohl beobachtet, wie ich Tag um Tag mein Notizbuch füllte, denn eines Morgens drückte mir Siegfried ein Buch in die Hand. »Wenn du viel schreibst, dann solltest du auch viel lesen«, sagte er.
John Steinbecks Von Mäusen und Menschen, er hatte es wohl nur für mich aus der Bücherei entliehen. Sein Angebot überraschte mich. Es schmeichelte mir und wurde der Dreh- und Angelpunkt unserer Freundschaft.
»Du bist jetzt meine neue Familie«, erklärte er eines Abends. Wie ernst durfte ich das nehmen? Ich, dem die Familie genommen worden war, hatte nun einen besten Freund, der sich seiner Familie entledigt hatte. Eigentlich zum Lachen.
Ich hatte den Eindruck, als
Weitere Kostenlose Bücher