Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
betrachte er uns beide als Abbild der beiden Hauptcharaktere George und Lennie. Noch weniger schmeichelhaft, als mit dem geistig zurückgebliebenen Lennie gleichgesetzt zu werden, war für mich allerdings die Vorstellung, dass Siegfried eines Tages den Lauf einer Pistole an meinen Kopf halten und abdrücken würde, wie George es bei Lennie getan hatte.
Zwei Wochen später fand ich heraus, dass Siegfried mir dieses Buch ohne tiefere Absicht gegeben hatte. Der Inhalt war ihm völlig unbekannt. Mit fast zwölf Jahren konnte er weder lesen noch schreiben.
»Mir hat das Bild gut gefallen«, beantwortete er beiläufig meine Frage, warum er ausgerechnet diese Geschichte gewählt hatte. Auf dem Umschlag waren zwei grobschlächtige Männer hände abgebildet, die sich um einen zarten Frauenhals schlossen.
Siegfried und ich wurden das, was man beste Freunde nennt. Er überzeugte mich davon, dass ich es dank meiner Statur mit jedem aufnehmen konnte. Ich musste schwören, dass niemand von seinem Analphabetentum erfahren würde. Es war vorteilhaft, ihn zum Freund zu haben, denn in kürzester Zeit schwang er sich zum heimlichen Herrscher des Kinderheims auf. Er hatte eine Art, jedem seine Geheimnisse zu entlocken, oder vielleicht erahnte er sie einfach nur, dann erpresste er die Betroffenen mit seinem Wissen. Kinder, Erzieher, sogar über den Heimleiter hatte er Dinge in Erfahrung gebracht, die ein Zwölfjähriger normalerweise nicht weiß und auch nicht wissen sollte. Deswegen wurde er einerseits respektiert, andererseits gehasst. Man fürchtete ihn und tat, was er verlangte. Ich hatte ebenfalls Angst vor ihm, aber stand ihm nahe. Wir waren abhängig, jeder auf seine Weise, und profitierten voneinander. Ich brachte ihm das Lesen bei und er motivierte mich, zu schreiben.
Eines Nachts, als ich sechzehn war, fand man einen der Patres erhängt in seinem Zimmer. Es ging das Gerücht, er sei schwul gewesen, und einer der Jungen, an denen er sich vergangen hatte, hätte ihn bei der Heimleitung verraten wollen.
In dieser Nacht verschwand Siegfried sang- und klanglos, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden. Da er in wenigen Monaten volljährig sein würde und auch wegen der Aufregungen in dieser Nacht, machte sich niemand die Mühe, ihn einzufangen. Er blieb verschwunden.
Jahre später begegnete ich ihm wieder – im Gefängnis. Manchmal schreibt der Zufall Szenen im wirklichen Leben, die in einem Manuskript unglaubwürdig wären. Ich war damals vermutlich der einzige Kleindealer in Frankfurt, der selbst keine Drogen nahm. Ich hatte ja am eigenen Leibe erlebt, wohin das führte. Doch irgendwann erwischen die Bullen alle und irgendwann erwischten sie auch mich. Als sich die Zellentür öffnete, stand ich auf einmal Siegfried Bär gegenüber, der ebenfalls wegen Drogenhandel einsaß. Wir hatten neun Monate abzusitzen – genügend Tage, um eine alte Freundschaft aufzufrischen. Und genügend Nächte, um Geschichten zu erzählen. Erfundene und wahre.
»Kannst du ein Geheimnis bewahren?«, flüsterte er in einer dieser Nächte.
Noras Telefon klingelte.
»Wo bleiben Sie denn?« Gideon Richters Stimme klang verärgert.
»Dasselbe wollte ich Sie fragen!«, fauchte Nora.
»Ich befinde mich in einem Apartmenthaus in der Taunusanlage, vor mir liegt eine erdrosselte Prostituierte, im Zimmer nebenan sitzt eine sprachlose Zeugin und ich könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen.«
Nora stöhnte auf. Jetzt verstand sie, was Richter damit gemeint hatte, als er sagte, ›das Thema Kanther ist durch‹. Wenn in dieser Nacht eine weitere Prostituierte getötet worden war, hatten sie, ging man von der Serienmörderthese aus, den Falschen festgenommen. Sie sah erst zu Kanther hinüber, dann auf die Uhr. Punkt vier. Eine bleierne Müdigkeit saß ihr tief in den Gliedern. Es half nichts, sie musste zum Tatort.
Sie stand auf und wandte sich an die Protokoll führende Kollegin, während sie Kanthers Notizen ergriff. »Lassen Sie sich von Herrn Kanther alle Informationen über Siegfried Bär geben. Dann versuchen Sie herauszufinden, wo Bär sich derzeit aufhält.«
Die ältere Dame mit der randlosen Lesebrille zuckte ratlos die Schultern. »Ich bin Stenotypistin.«
»Dann finden Sie jemanden, der eine Dienstmarke hat. Das sollte sich im Polizeipräsidium einrichten lassen.«
Kanther sprang irritiert auf, dabei riss er den Stuhl um, der zu Boden polterte. »Was ist passiert?«
Nora überging die Frage. Im Hinausgehen rief sie über die
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