Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
entdeckte.
»Gib mir das Handy, sofort!«, befahl sie mit so viel Sicherheit in der Stimme, wie sie in dieser vertrackten Situation aufbringen konnte. Fordernd streckte sie die Hand aus.
Die Mädchen sahen sie neugierig an. Die Anführerin hielt das Telefon hoch in die Luft und grinste. Auf der Innenseite ihres Handgelenks tanzte ein tätowierter Skorpion mit aufgerichtetem Stachel. »Hol’s dir doch, Ma…«
Weiter kam sie nicht. Eine Hand war hinter ihr aufgetaucht und hatte ihr geschickt das Telefon entwunden. Die Frau drehte sich auf dem Absatz um und ließ eine Schimpftirade vom Stapel. Gideon Richter stand vor ihr. Obwohl die Blonde schon groß war, überragte er sie um mindestens einen halben Kopf. Sie verstummte auf einen Schlag.
Richter drückte die Handytasten und betrachtete das Foto von Nora. Unter ihrem besorgten Blick drückte er weitere Tasten und auf seinem Gesicht erschien ein hinterhältiges Grinsen.
Die Prostituierte fing an, ihn hysterisch zu beschimpfen und ihr Telefon von ihm zurückzufordern.
»Den kenn ich doch«, sagte Richter und musterte ein Foto nach dem anderen. Wutschnaubend versuchte sie, ihm das Gerät zu entreißen. Kaum hatten ihre langen roten Finger nägel seine Hand berührt, holte er mit einer kaum sichtbaren Bewegung der anderen Hand aus und schlug sie ins Gesicht. Dabei nahm er seinen Blick kein einziges Mal vom Display.
Ein roter Fleck flammte auf der Wange der Frau auf, Nora konnte ihn sogar im Halbdunkel erkennen.
Die umstehenden Mädchen machten große Augen und wichen zurück.
Ihre Anführerin benötigte einen Augenblick, um sich zu fangen. Dann keifte sie unvermindert weiter. »Du Scheißbulle! Dich krieg ich dran. Du schlägst mich nicht ungestraft!« Ihre Stimmlage schraubte sich in ungeahnte Höhen.
Richter sah vom Display auf und fixierte sie mit kaltem Blick. »Es reicht«, befand er und in seiner Stimme schwang mehr Autorität mit, als Nora für möglich gehalten hatte.
Die Kurzhaarfrisur stand mit offenem Mund da und ließ ihn gewähren.
Er verstaute ihr Handy ungerührt in seiner Tasche, packte Nora am Arm und zog sie den Gang hinunter Richtung Treppenhaus.
»Gib mir mein Handy zurück, du Arschloch!«, schrie eine schrille Stimme hinter ihnen, wenngleich eher verängstigt als wütend.
»Was war das denn? So eine Art Gruppentherapie?«, erkundigte sich Richter, als sie die Treppe hinaufgingen.
»Ist das Ihre Art, Konflikte mit Frauen zu lösen? Indem Sie zuschlagen?«, konterte Nora aufgebracht.
»Ach, das war eine Frau? Hab ich gar nicht gemerkt.«
»Wenn die Sie anzeigt, dann völlig zu Recht.«
»Weswegen denn? Habe ich etwas Ungesetzliches getan?« Richter blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah ihr mit gespielter Verwunderung in die Augen. »Haben Sie gesehen , dass ich gegen das Gesetz verstoßen habe?«
Eine unangenehme kleine Pause entstand.
»Sie können es das nächste Mal gerne mit endlosen Diskussionen versuchen«, lästerte er und nahm die nächsten zwei Stufen auf einmal.
So läuft das also, dachte Nora.
Das Zimmer war winzig. So winzig, dass Nora sich erstaunt fragte, wo sich die Zeugin während der Tat versteckt hatte. Dann sah sie die offene Kommode mit dem dunklen Fleck auf dem Bodenbrett und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. »Großer Gott!«
Einer der Techniker von der Spurensicherung sah sie über- rascht an. »Der war wohl gerade anderweitig beschäftigt«, sagte er mit resignierter Miene.
Warum hatte ihr Richter am Telefon verschwiegen, dass es sich um ein Kind handelte? Dann hätte sie sich besser vorbereiten können.
Von allen Zeugen waren Kinder gleichzeitig die einfachsten und die schwierigsten. Sie verfolgten, sofern sie nicht von einem Erwachsenen manipuliert worden waren, keine eigenen Ziele, sondern rückten mit der Wahrheit frei heraus. Andererseits machte ein Trauma, wie der Tod eines nahestehenden Menschen, schon einem psychisch stabilen Erwachsenen schwer zu schaffen. Den gewaltsamen Tod eines Menschen mit ansehen zu müssen, konnte die kindliche Psyche bis auf den Grund zerstören.
Einen schwer traumatisierten Menschen zu befragen, glich einem Tanz auf dem Drahtseil ohne Sicherheitsnetz; für Kinder galt das in besonderem Maße. Eine falsch gestellte Frage oder eine unglückliche Assoziation konnte die Bilder, die infolge einer Abwehrreaktion auf den Grund des Bewusstseins verdrängt worden waren, jederzeit wieder an die Oberfläche holen. Dort richteten sie oft weitere,
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