Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Streifenwagen auf dem Weg nach Hause. Auch das deutete er als ein Symptom seiner Metamorphose.
Keinesfalls hatte die Polizei ihn allein wegen seiner Beziehung zu Siegfried laufen lassen. Da gab es noch etwas, das sie ihm verheimlichten. Er musste nicht alles wissen – er war frei und nur das zählte.
Einmal noch bog der Wagen um die Ecke und hielt vor seiner Haustür. Der Mann auf dem Beifahrersitz stieg aus, setzte die Uniformmütze auf, öffnete Kanther wortlos die Tür. Er nickte ihm kurz zu und schlug, als Kanther ausgestiegen war, die Tür des Fonds hinter ihm zu. Dann holte er Kanthers Reisetasche aus dem Kofferraum, stellte sie vor ihn auf den Gehsteig und stieg wieder ein. Der blau-silber-farbene Wagen glitt im Zeitlupentempo davon, wie ein schläfriges Reptil, das sich in seinem Revier wie zufällig nach etwas Fressbarem umsah.
Kanther blickte hinauf. Die Nachbarin drückte sich oben an der Fensterscheibe die Nase platt. Er streckte grinsend die Hände in die Luft und wedelte mit den Handgelenken hin und her: keine Handschellen mehr, Frau Nachbarin. Justizirrtum! Das Gesicht verschwand hinter der Gardine.
Siegfrieds Handy war leicht wie eine Feder und wog doch schwer wie Blei in seiner Jackentasche. Die anderen Dinge, die die Polizei beschlagnahmt hatte – der Computer, das Manuskript, Siegfrieds Koffer und einige Gegenstände aus seinem Arbeitszimmer – befanden sich noch in der Asservatenkammer; ihre Freigabe musste vom Staatsanwalt genehmigt werden. Sie wollten ihm die Sachen heute Nachmittag bringen. Winters Tochter hatte ihn bei dieser Mitteilung nicht angesehen. Doch als sie ihm zum zweiten Mal in dieser Woche ihre Visitenkarte angeboten hatte, hatte sie ihm ins Gesicht geschaut. ›Vielleicht können wir uns diese Woche noch einmal treffen?‹ Das waren ihre Worte gewesen.
Sie wollte ihn nicht nur wegen des Falls sehen, das hatte er deutlich gespürt. Außerdem: Was konnte er dazu noch beisteuern? Er würde ihnen Siegfried auf dem Silbertablett servieren und nach der Festnahme würde Kanther für den Rest seines Lebens noch mehr Angst haben. Denn irgendwann würde Siegfried freikommen. Man musste kein Psychologe sein, um sich auszumalen, was er dann mit Kanther anstellen würde.
Das verdammte Haustürschloss hakte. Normalerweise stand die Tür einen Spalt offen, ungeachtet der regelmäßigen schriftlichen Appelle des Verwalters: Bitte tragen Sie selbst ihren Teil zur Sicherheit in diesem Haus bei und halten Sie die Eingangstür stets geschlossen. Die Nachbarn waren häufig Opfer von Einbrüchen gewesen, er selbst war bisher verschont geblieben. Genau genommen war bei ihm vor einigen Tagen jemand eingestiegen, doch das stand auf einem anderen Blatt.
Endlich ging das Schloss auf. Kanther stemmte mit der Schulter die schwergängige Tür nach innen und betrat das Treppenhaus. Eingangs- und Hoftür hatten jeweils ein kleines Fenster aus gelb getönten Nabelscheiben, die genug Licht hereinließen, um nicht über seine eigenen Füße zu stolpern.
Kanther stellte seine Tasche ab und drehte sich um, um die Tür zu schließen.
Hinter ihm näherten sich rasch Schritte. Jemand wollte offensichtlich das Haus verlassen. Kanther rüttelte an der Klinke und zog mit erheblichem Kraftaufwand die Tür wieder auf, um den anderen hinauszulassen. So viel Höflichkeit musste sein.
Jemand drückte sich im schmalen Gang an ihm vorbei. Das Gesicht konnte er unter dem breitkrempigen Hut nicht erkennen, aber die Person war auch nicht besonders groß. Was aus Kanthers Sicht auf etwa neunundneunzig Prozent aller Leute zutraf, mit denen er zu tun hatte. Es musste jemand aus dem Haus sein oder ein Besucher, dem er schon im Treppenhaus begegnet war: Die Haltung, die Art wie sich der Mann bewegte, kam Kanther vage bekannt vor. Selbst das leise Schniefen und die Stimme, die etwas Unverständliches murmelte, wirkten auf Kanther vertraut.
Aber der andere hatte es eilig und Kanthers ohnehin geringes Bedürfnis nach Gesellschaft war am Nullpunkt angelangt. Er drückte die Tür zu, drehte sich um und schlurfte zu den im Dunkel liegenden Postkästen.
Aus seinem Briefkasten ragte ein brauner Din-A4-Um-schlag heraus. Kanther zog ihn aus dem Schlitz und betrachtete forschend Vorder- und Rückseite.
An den Schriftsteller Martin Kanther.
*
Sie konnte nicht weit sein.
Nora suchte mit den Augen panisch die nähere Umgebung ab. Als sie Agniezka nicht sofort entdeckte, lief sie zuerst zur Baugrube, deren Rand hinter der
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