Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
die Meinung sagen?«
»Ich wiederhole nur, was der Direktionsleiter mir vor einer Dreiviertelstunde in seinem Büro eröffnet hat. Und ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.«
Nora sah Hartmann konsterniert an. Dann wanderte ihr Blick zu Richter. »Und Sie, Kollege Richter? Haben Sie etwas dazu zu sagen? Oder leiden Sie auch an einem plötzlichen Anfall von Mutismus?«
Gideon Richter hielt ihrem Blick ungerührt stand und schwieg. Er sah wohl die Sinnlosigkeit einer Diskussion zu diesem Zeitpunkt ein.
Mehr als jemals zuvor hatte Nora das Gefühl, hier völlig fehl am Platz zu sein.
17. März
Gisbert Grauvogel lugte neugierig hinter seinem Bildschirm hervor. Er fixierte Nora, die ihm gegenübersaß und konzentriert auf das Geschehen auf ihrem Monitor starrte. Schließlich bemerkte sie, dass er sie beobachtete.
»Was ist?«
»Die Kleine beschäftigt dich ziemlich, stimmt’s?«
»Tut mir leid, dass ich dich nerve, Gisi. Sobald die Technik meinen defekten Bildschirm ausgetauscht hat, bin ich wieder zurück in meinem Büro. Soll ich den Ton leiser stellen?«
Richter, der unterwegs war, um ein Phantombild anfertigen zu lassen, hatte ihr freundlicherweise seinen Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt, während ihr Computer repariert wurde. Seit einer halben Stunde saß sie nun da und spielte wieder und wieder den Film ab, den das Kinderpsychiatrische Zentrum von Agniezka gemacht hatte. Sie hatte sich insgeheim schon gefragt, ob sie nicht allmählich das gleiche obsessive Verhalten entwickelte wie ihre kleine Zeugin. Nora schloss resigniert die Augen – von Zeugin konnte noch gar keine Rede sein. Das war reines Wunschdenken.
Grauvogel stand auf, ging um die zusammengeschobenen Schreibtische herum und stellte sich hinter Nora. Eine Weile sahen sich beide stumm die Aufnahme an. Agniezka, die apathisch auf einem Kinderstuhl saß, den Blick ins Leere gerichtet und sich langsam vor- und zurückwiegte. Ab und zu reichte eine Hand ein Plüschtier oder ein Spielzeug ins Bild. Agniezka ließ jegliche Reaktion vermissen.
»Bleibt sie so? Für immer?«, fragte Grauvogel.
Nora schüttelte den Kopf. »Nein. Warte einen Moment.«
Sie spielte ein anderes Video ab, das an diesem Morgen aufgenommen worden war. Sie sahen eine völlig veränderte Agniezka. Ein kleines Mädchen, das an einem Basteltisch saß und wie die meisten Mädchen ihres Alters mit großer Hingabe malte, ausschnitt, mit Glitzerklebstoff verzierte. Voller Stolz hielt sie das Ergebnis in die Kamera. Sie lächelte.
»Wow«, sagte Grauvogel. »Erholen sich Kinder immer so schnell?«
Nora enthielt sich vorerst einer Antwort. Aus dem Off hörte man eine Frauenstimme, die die Kleine mehrmals in ihrer Sprache anredete.
Agniezka antwortete nicht – zumindest nicht mit ihrer Stimme. Sie nickte oder schüttelte den Kopf, wenn man ihr eine Frage stellte, die sie mit Ja oder Nein beantworten sollte. Aber sie blieb stumm.
Nora atmete tief durch. »Erholen ist relativ. Nach außen hin wirkt sie wieder ziemlich normal. Sie ist liebenswürdig und kooperativ. Aber dieser Mutismus, die durch das Trauma hervorgerufene Stummheit, kann eine Weile bleiben.«
»Wie lange?«, fragte Grauvogel, und Nora wusste, worauf er hinauswollte. Eine stumme Zeugin, ein Kind obendrein, war im Grunde keine echte Zeugin. Es war schwierig genug, einen Gewalttäter anhand einer kindlichen Zeugenaussage zur Strecke zu bringen. Wie viele Verrückte liefen frei herum, weil ein findiger Anwalt in den kindlichen Erzählungen von Missbrauch oder Vergewaltigung ein winziges unstimmiges Detail entdeckt und ausgeschlachtet hatte? Nora hatte Urteilsbegründungen von Freisprüchen gelesen, in denen offen oder zwischen den Zeilen stand: Wir wissen, dass du es getan hast, aber wir kriegen aus deinem Opfer keine verwertbare Aussage heraus.
»Nora?«, riss Grauvogel sie aus ihren Gedanken.
»Sorry, ich war gerade ganz woanders. Wie war noch mal deine Frage?«
»Wie lange hält diese Stummheit an?«
»Das kann niemand mit Bestimmtheit sagen.« Nora zuckte die Schultern. »Schlimmstenfalls für den Rest ihres Lebens.«
Grauvogel pfiff durch die Zähne. »Scheiße, dann haben wir aber ein echtes Problem.«
Nora nickte zustimmend. Ja, und nicht nur eines. »Hinzu kommt, dass Agniezka ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland ist. Sie wird vermutlich innerhalb der nächsten drei Wochen nach Moldawien ausgewiesen«, seufzte sie.
»Und was machen sie dort mit ihr?«
»Falls sie keine
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