Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Absperrung jäh abfiel. Zwischen den Absperrgittern klaffte eine Lücke, gerade breit genug, dass sich ein Kind hindurchzwängen konnte. Die vorbeifahrenden Autos hinterließen braune Dreckspritzer auf Noras Kleidung und ihren Schuhen. Sie blickte hinunter und mehrere dunkle Augenpaare schauten unter gelben Schutzhelmen überrascht zurück. Das Mädchen war nirgends zu sehen.
Nora rannte zurück zum Auto. Von der Hauptstraße zweigten einige schmale Seitenstraßen ab, die in ein Wohngebiet führten. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als die Umgebung abzusuchen. Wenn sie Agniezka nicht innerhalb von zehn Minuten gefunden hatte, würde sie einen Einsatzwagen anfordern und die Suche mithilfe der Kollegen fortsetzen müssen. Dann galt es, Hartmann anzurufen und ihren Fehler einzugestehen. Sie betete, dass ihr diese Demütigung erspart blieb.
Nora lief durch das Wohngebiet wie eine verzweifelte Mutter, die ihr Kind verloren hatte. Immer wieder rief sie Agniezkas Namen. Sie merkte, wie sie heiser wurde, wie ihre Stimme zu versagen drohte. Noch immer keine Spur von Agniezka. Sie sah auf die Uhr, strich sich nervös über die Augen und ballte die Fäuste. Sie hatte ihre selbst gesetzte Gnadenfrist bereits um zehn Minuten überschritten. Hartmann würde sie in der Luft zerreißen. Eine Zeugin zu verlieren – so etwas passierte nur einer blutigen Anfängerin! Vor ihrem inneren Auge tauchte Richters hämisches Grinsen auf.
»Suchen Sie Ihre Tochter?« Zwei türkische Frauen, eine sehr jung, eine sehr alt, beide mit Mantel und Kopftuch, standen vor ihr auf dem Gehsteig. Nora fielen die Gegensätze zwischen den beiden ins Auge: Der Teenager trug eine modische Jeans und teure Sneakers zum unscheinbaren Kurzmantel. Die alte Frau mit Brille, vermutlich ihre Großmutter, hatte sich bei ihrer Enkelin untergehakt, zwischen ihren Fingern qualmte eine Zigarette.
»Haben Sie sie gesehen?«, keuchte Nora. Sie ersparte sich komplizierte Erklärungen, in welcher Beziehung sie zu Agniezka stand.
Die Frauen wechselten einen Blick und ein paar Worte auf Türkisch.
»Gehen Sie zum Spielplatz, gleich da vorne in der nächsten Querstraße«, sagte das Mädchen, »Sie können ihn nicht verfehlen. Es sind ziemlich viele Leute da.«
Noras Herz sank. Das klang, als wäre etwas Schlimmes passiert.
Sie bedankte sich, hastete die Straße hinunter und bog um die Ecke. Der Spielplatz. Mehrere Dutzend Menschen, Mütter mit Kindern, aber auch ältere Männer, die ihr Boulespiel unterbrochen hatten, bildeten einen undurchdringlichen Ring um das Gelände. Sie zwängte sich zwischen den Schaulustigen hindurch. Schob Leute zur Seite, quetschte sich an Kinderwagen und Einkaufstrolleys vorbei. Dann hatte sie endlich den Zaun erreicht. Und begriff auf Anhieb, was die Menschen aus dem Viertel hierhergezogen hatte.
*
Kein Absender, keine Adresse, keine Briefmarke.
Kanther stand unschlüssig im Hausgang und analysierte die Handschrift. Geradlinig, Druckbuchstaben, ein Füller mit breiter Feder. Wie ihn Leute verwendeten, die sich als Künstler gebärdeten.
Angst. Er spürte, wie sich ein schwarzes Loch in seinem Innern ausbreitete und jeden vernünftigen Gedanken zunichtemachte. Er zögerte einen Augenblick, dann riss er das Päckchen auf und zog den Papierstapel, der kaum mehr als fünfzehn oder zwanzig Seiten umfasste, heraus.
Drachenstich / Kapitel 4
Kanther stöhnte auf. Das Päckchen fiel ihm aus der Hand und landete geräuschvoll auf den Fußbodenkacheln. Er ließ die Tasche los und stürmte zur Ausgangstür.
Er hätte nicht erklären können, warum, aber er war sich absolut sicher, dass der Umschlag von dem Unbekannten im Hausflur eingeworfen worden war.
Hermann Rittka hatte sich wenige Zentimeter neben ihm durch die Tür gezwängt, er war zum Greifen nahe gewesen. Kanther hätte nur die Hand ausstrecken und ihn aufhalten müssen. Nun wurde ihm klar, warum der Unbekannte es so eilig gehabt hatte. Sich absichtlich weggedreht hatte. Kan-ther hatte etwas Vertrautes bei ihm erkannt. Nur wollte ihm nicht einfallen, was.
Er riss die Tür auf und sprang die drei Treppenstufen hinunter, rannte am Fahrradständer vorbei auf den Gehweg. Er sah links die Straße hinauf. Der Streifenwagen musste doch noch irgendwo in der Nähe sein! Kanther hörte sich schreien, ›Polizei‹ vermutlich. Ringsum öffneten sich mehrere Fenster und neugierige Gesichter erschienen.
Er sah nach rechts. Der hundertfünfzig Meter entfernte Merianplatz bevölkerte
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