Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
sich, es ging auf Mittag zu und die Angestellten waren für eine Stunde von ihrer Sklavenarbeit am Computer befreit.
In der Nähe des Zugangs zur U-Bahn-Station entdeckte er für den Bruchteil von Sekunden den großen Hut, der auf einem Meer von Köpfen schaukelte. Dann war er wieder verschwunden.
Kanther lief los. Ließ Koffer, Tasche und Manuskript zurück. Es geschah wie ein Reflex. Aus dem Beobachter war ein unmittelbar Beteiligter geworden. Das Gefühl, Rittka um Haaresbreite verpasst zu haben, trieb ihn an.
Er rannte. Fünfzig, siebzig, hundert Meter. Aber die Trägheit der Masse, der Schlafentzug und der fehlende Alkohol forderten ihren Tribut. Er keuchte und schwitzte, bekam kaum mehr Luft, musste langsamer gehen, hielt sich dabei die Seite. Als er endlich die Rolltreppe erreicht hatte, war der Mann mit dem Hut verschwunden. Rittka war auf dem Weg zur U-Bahn.
Kanther fuhr die Rolltreppe hinunter, gegen die schmerzhaften Stiche unterhalb des Rippenbogens ankämpfend. Er eilte durch die Halle mit den Verkaufsautomaten, dann eine weitere Rolltreppe hinunter. Er hörte bereits das metallische Kreischen des Zuges, der in die Station einfuhr.
Beeil dich, du verlierst ihn!
Hektisch blickte er nach rechts und links. Der Hut war nirgends zu sehen. War Rittka doch nicht zur U-Bahn hinuntergegangen, sondern spazierte seelenruhig die Berger Straße entlang und amüsierte sich über Kanthers Dummheit? Doch da war er, der Hut: am Ende des Zugs, vor dem letzten Wagen.
»Rittka!« krächzte Kanther mit letzter Kraft. Der eine oder andere Pendler sah missmutig herüber, aber die meisten nahmen keine Notiz von ihm.
Die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Fahrgäste stiegen aus, die ersten drängelten sich schon an den Aussteigenden vorbei in die Bahn.
Kanther ahnte es: Es war ein Fehler gewesen, Rittkas Namen zu rufen. Gerade noch sah er eine Hand am Ende des Zuges nach oben greifen und den Hut abnehmen. Jetzt war Rittka nur noch ein Kopf unter vielen. Kanther humpelte auf den Zug zu, doch die Türen schlossen sich bereits mit einem Zischen. Die Anzeige der Türverriegelung leuchtete noch grün. Er erreichte den letzten Wagen. Kanther streckte die Hand aus. Im selben Moment, als er den Verriegelungsknopf berührte, wechselte die Farbe auf Rot.
Die Tür war gesperrt.
Kanther hämmerte mit der flachen Hand gegen das Glas. Drückte ein paar Mal gegen die Verriegelung. »Machen Sie auf! Ich will mitfahren!«, schrie er wutentbrannt.
Der Zug setzte sich in Bewegung.
Zum ersten Mal seit mehr als dreißig Jahren traten ihm Tränen der Wut in die Augen. Sie rannen die fleischigen Wangen hinunter und in die Mundwinkel, hinterließen einen salzigen Geschmack auf seiner Zunge. Ein Geschmack, der ihn daran erinnerte, wie es war, wenn man ohnmächtig zusehen musste, wie die Welt ringsum zerfiel. Während man alleine zurückblieb. Weil der Vater dreihundert Meter unter der Erde in Stücke gerissen wurde und die Mutter sich mit einem Seidenschal um den Hals aus dem Leben stahl.
Der Zug verschwand im Tunnel. Kanther sah den Rücklichtern hinterher, dann auf die gegenüberliegende Bahnsteigmauer. Die Spuren der Verschalungsnähte im Beton, halbherzig entfernte Graffiti. Ein großes, weißes Plakat mit schwarzer, filigraner Schrift – Werbung für ein homöopathisches Beruhigungsmittel:
Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt. (Ingmar Bergmann)
Kanther nahm die Brille ab und wischte mit dem Ärmel die Tränen fort. Er schloss die Augen und spürte in seinen Körper hinein, der das Adrenalin abbaute. Spürte das Herz, das in seiner Brust hämmerte, hart anfangs, dann sanfter. Es wurde Zeit, die Ohnmacht zu bekämpfen. Die Ohnmacht und die Angst.
*
Der Spielplatz erstreckte sich über eine weitläufig betonierte Fläche. Eine Schaukel, ein Klettergerüst, Wackeltiere aus Holz. Metall, Rost, Lack, wieder Rost, mehrmals überlackiert. Unter den Spielgeräten Gummimatten zum Schutz der Kinder. Aber auf dem Platz schien es mit einer Ausnahme keine Kinder zu geben.
Die Mutter, die direkt neben Nora stand, hielt ihren schluchzenden Sohn im Arm. »Du bekommst neue Straßenkreide von mir, Karl, und jetzt hör endlich auf zu heulen!«
Karl heulte weiter.
Das Mädchen auf dem Spielplatz umklammerte in jeder Faust ein Stück Straßenkreide wie eine Waffe und sah sich gehetzt um.
Der Platz war fast auf seiner gesamten Fläche von dreißig mal dreißig Metern mit Kreidezeichnungen übersät. Es
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