Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Verwandten hat, werden sie das Mädchen in ein Waisenhaus stecken.«
»Das bedeutet, du hast kaum Zeit, um etwas aus ihr herauszubekommen?«
»Das bedeutet vor allem, dass sie in ihrem Leben kaum die Gelegenheit bekommen wird, das Trauma mit professioneller Unterstützung halbwegs aufzuarbeiten.« Und es bedeutet außerdem, dass ich zum zweiten Mal nicht verhindern kann, wie jemand in sein Heimatland abgeschoben und ins Unglück gestürzt wird, dachte sie.
Erschrocken blickte sie auf ihre Uhr. »Ach du liebe Zeit! Ich müsste längst im Kinderpsychiatrischen Zentrum sein.« Sie sprang auf und schnappte sich ihre Handtasche.
Gisbert sah sie fragend an.
»Sie haben mich gebeten, Agniezka zu ihrer Pflegefamilie zu bringen. Sie ist wohl stabil genug, dass sie bis zu ihrer Abschiebung nicht mehr stationär betreut werden muss. Darum kommt sie übergangsweise in Bereitschaftspflege.«
Sie hatte kaum den Satz beendet, da war sie auch schon zur Tür hinaus und um die Ecke verschwunden.
Gisbert blieb eine Weile stehen, den Blick auf den Monitor gerichtet.
Wie auf ein Stichwort bog Gideon Richter keine Minute später um die Ecke.
»Hast du Nora getroffen? Sie war eben noch hier«, sagte Grauvogel und kehrte wieder an seinen Schreibtisch zurück.
Richter schüttelte den Kopf und setzte sich. Agniezkas Video füllte seinen gesamten Bildschirm aus. Er drückte auf eine Taste und fror das Bild ein. »Hat sie gesagt, wie weit sie mit dem Mädchen ist?«
»Die Kleine ist anscheinend stumm wie ein Fisch«, sagte Grauvogel und fügte vielsagend hinzu: »Außerdem wird sie bald abgeschoben.«
Richter schüttelte verächtlich den Kopf. »Die Frau Psychologin hat Angst, die Kleine hart anzufassen. Ich denke, sie ist viel zu vorsichtig. Wenn das so weitergeht, fährt das Mädchen in ein paar Tagen heim und wir stehen mit leeren Händen da.«
Grauvogel grinste. »Du würdest da sicher ganz anders rangehen, stimmt’s, Gideon?«
»Würde ich«, pflichtete Richter ihm bei. »Aber ich komme nicht an das Mädchen ran. Die Regeln in der Uniklinik sind ziemlich strikt, was Besuch angeht.«
»Wie hast du das herausgefunden?«, feixte Gisbert.
Richter gab keine Antwort.
Gisbert legte den Kopf schief. »Sie ist bald nicht mehr im Kinderpsychiatrischen Zentrum.«
Richter sah ihn überrascht an. »Ach nein? Sondern?«
»Nora bringt sie in diesem Augenblick zu Pflegeeltern. Dort bleibt sie bis zur Abschiebung.«
Die beiden Männer sahen sich lange an. Schließlich unterbrach Gideon Richter die Stille. »Du hast nicht zufällig die Adresse?«
Gisbert zog lächelnd eine Schublade in seinem Schreibtisch auf. Ganz oben lag ein kleines schwarzes Büchlein.
*
Kaum ist das letzte Schneehäufchen abgetaut und die Sonne kommt heraus, fangen sie an, die Stadt umzugraben.
Nora klopfte ungeduldig auf das Lenkrad. Sie stand nun schon vor der dritten Baustellenampel, dabei war sie gerade erst im Nordend losgefahren. Das Kinderpsychiatrische Zentrum lag nur einen Steinwurf von der Villa Winter entfernt, und einen Moment lang hatte sie erwogen, ihrem Vater das Mädchen vorzustellen. Was soll das?, hatte sie sich zur Vernunft gerufen. Du solltest professionelle Distanz wahren, sonst gerätst du in Schwierigkeiten.
Nein, sie würde ihren Job machen und das Mädchen in der Pflegefamilie abliefern. Und in den nächsten Tagen ihr Bestes tun, um von Agniezka eine Täterbeschreibung oder etwas ermittlungstechnisch Brauchbares zu erhalten, ohne die Psyche des Mädchens noch mehr zu belasten. Vielleicht könnte sie auch ein wenig dazu beitragen, dass die Kleine in ihrer Heimat gut untergebracht wurde.
Nora sah in den Rückspiegel. Sie hatte ihn nach unten geklappt, sodass sie Agniezka auf dem Rücksitz im Blick hatte. Die Kleine schaute aus dem Fenster, neben sich einen kleinen rosa Plüschhasen, den Nora auf dem Weg in die Uniklinik noch schnell in einem Drogeriemarkt besorgt hatte. Draußen gab es nichts Besonderes zu entdecken. Hier erstreckten sich die nordöstlichen Randgebiete der Stadt, eine typische Ausfallstraße, die aus dem Zentrum hinausführte. Ein türkischer Supermarkt, eine 99-Cent-Bäckerei, ein Tattoo-Laden, der mit großformatigen Bildern für sein Handwerk warb.
Nora stieß einen genervten Seufzer aus. Die Ampel stand nun schon eine gefühlte Viertelstunde auf Rot. Sie warf aber- mals einen Blick in den Rückspiegel. Doch was sie dort sah, erschreckte sie zu Tode.
Agniezka zitterte am ganzen Körper, ihr Atem ging schnell und
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