Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung

Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung

Titel: Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
Vom Netzwerk:
stoßweise, ihre Augen waren vor Angst geweitet. Die kleinen Hände umklammerten den Haltegriff im Fonds, die Knöchel waren weiß. Ihr Blick war starr auf die Panoramascheibe des Tätowierstudios gerichtet.
    Nora musterte die Umgebung und ihr wurde klar, dass irgendetwas in der Auslage des Schaufensters das kleine Mädchen aus der Bahn geworfen hatte. Die verdammte Ampel zeigte immer noch Rot. Nora warf einen prüfenden Blick in den Außenspiegel. Dann schlug sie kurzerhand das Lenkrad ganz links ein, trat aufs Gaspedal und brach aus der Schlange der wartenden Fahrzeuge aus.  
    Die Vorderräder des Mini drehten auf dem matschigen Untergrund durch, schleuderten Dreck und kleine Steine zur Seite, direkt auf die Fahrertür des Fahrzeugs nebenan. Nach einem Augenblick der Verblüffung drückte der Fahrer zornig auf die Hupe.  
    Der Mini raste auf der Gegenfahrbahn an der Schlange vorbei, ungeachtet der roten Ampel, und erreichte das Ende der Baustelle einen Sekundenbruchteil vor einem entgegenkommenden Mercedes.
    Nora fuhr rumpelnd auf den Gehsteig und würgte den Motor ab. Dann stieg sie aus. Sie klappte den Fahrersitz nach vorne und zwängte sich zu Agniezka auf die Rückbank.
    Dort nahm sie das Mädchen in den Arm und drückte es fest an sich. Obwohl Agniezka reglos dasaß, ihr Körper steif und abweisend, blieb Nora eine Weile so sitzen. Sie wusste einfach nicht, was sie sonst für das Mädchen tun konnte.
    Der Fahrer des Mercedes hämmerte aufgebracht gegen die Scheibe. Nora sah hinaus und zeigte dem Kerl den Mittelfinger.
    Irgendwann ließ Nora das Mädchen los. Sie stieg aus und sah sich um. Zum Tattoo-Shop musste sie gut hundert Meter durch die Baustelle zurückgehen. Sie wusste nicht genau, worauf Agniezka reagiert hatte, aber sie wollte für alle Fälle Fotos machen, um sie später in Ruhe auszuwerten.
    »Agniezka, ich bin gleich zurück, okay?«
    Das Mädchen sah sie mit großen Augen an, ohne eindeutig zu reagieren. Seine Unterlippe bebte.
    »Warten, verstehst du? Bleib einfach sitzen. Ich bin gleich wieder da«, fügte sie beruhigend hinzu.
    Nora schlug die Tür zu und machte sich im Laufschritt auf den Weg.
    Die Auslage war die gleiche wie in jedem beliebigen Tattoo-Shop der Stadt. Vergilbte, grünstichige Fotos von großflächig tätowierten Körperregionen – Oberkörper, Arme, Beine, sogar im Gesicht und auf der rasierten Kopfhaut ließen sich manche Leute tätowieren. Nahaufnahmen gepiercter Brustwarzen und das übliche Sortiment von Genitalschmuck auf schwarzem Samt ergänzten das schaurige Kabinett. Schnell schoss sie einige Fotos, dann kehrte sie zum Wagen zurück. Es begann zu regnen. Hastig riss sie die Tür auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
    »Alles klar, wir können weiter.«
    Nora drehte sich um. Die Rückbank war leer.
    *
    LiEBE
    Mannshohe, mit einer Rostschicht überzogene Großbuchstaben. Windschief installiert in einem kargen Grünstreifen vor dem Arbeitsgericht, nur einen Steinwurf vom Polizeipräsidium entfernt.  
    Kanther saß im Fonds des Streifenwagens und sah hinaus. Was trieb einen Künstler dazu, in dieser trostlosen Gegend eine Skulptur aus LiEBE zu installieren? Und welcher Bürokrat besaß genug Zynismus, um gegen die Übermacht der grauen Fassade des Gerichtsgebäudes, das so hoffnungslos aussah wie ein Männerwohnheim, ein armseliges Häufchen LiEBE aufzubieten? Das Kunstwerk hatte auf Kanther den vermutlich gewünschten Effekt: Er wurde sich schlagartig der totalen Abwesenheit von Liebe bewusst. Vor diesem Gebäude, in diesem Stadtteil, in der ganzen beschissenen Stadt. Und natürlich in seinem Leben. Doch das erschien ihm pathetisch.
    Der Polizeiwagen schob sich auf Höhe der Finanzdirek-tion durch den morgendlichen Stau. Vorbei an der Deutschen Nationalbibliothek, die auch sein ›Werk‹ beherbergte, vorbei am Bürgerhospital, an der Fachhochschule. Dann ging es die Friedberger Landstraße hinunter, in die Bornheimer Landstraße. Diesmal ohne Blaulicht. Die Polizei hatte ihn eine Nacht länger im Präsidium festgehalten, als ihr rechtlich zustand, aber Kanther war klug genug, das nicht an die große Glocke zu hängen.
    Etwas war in den letzten beiden Nächten mit ihm geschehen. Es wäre ihm schwergefallen, dieses ›etwas‹ zu beschreiben, aber das Geräusch, mit dem die Zellenbeleuchtung erloschen war, ein Geräusch, dass ihn an eine andere Zelle aus ferner Vergangenheit erinnerte, hatte eine Veränderung in ihm ausgelöst.  
    Nun saß er in einem

Weitere Kostenlose Bücher