Tödliche Geschäfte
ging. So früh am Morgen war die 195 ziemlich leer, vor allem in nördlicher Richtung. Sean und sie hatten überlegt, gemeinsam zu fahren, jedoch dann beschlossen, jeder den eigenen Wagen zu nehmen, um unabhängig zu sein.
Als Janet die Forbes-Klinik an diesem Morgen betrat, war ihr nicht ganz wohl. Ihre Unruhe ging über das übliche Maß an Nervosität bei Antritt eines neuen Jobs hinaus. Die Vorstellung, Regeln und Vorschriften zu brechen, machte sie reizbar und angespannt. Bis zu einem gewissen Grad fühlte sie sich bereits jetzt schuldig; vorsätzlich schuldig.
Janet erreichte den vierten Stock ein paar Minuten vor Schichtbeginn. Sie goß sich einen Kaffee ein und sah sich ein wenig um. Sie merkte sich den Aufbewahrungsort der Krankenblätter, registrierte den Medikamentenschrank und die Vorratskammer, Örtlichkeiten, mit denen sie als Krankenschwester im Stationsdienst vertraut sein mußte. Als sie sich mit den Schwestern der Nachtschicht und den Kolleginnen im Tagesdienst zur Übergabe hinsetzte, war sie schon bedeutend ruhiger als bei ihrer Ankunft, wozu sicherlich auch Marjories fröhliche Anwesenheit beitrug.
Es hatte im Laufe der Nacht keine besonderen Vorkommnisse gegeben, nur Helen Cabots Zustand hatte sich dramatisch verschlechtert. Die arme Frau hatte mehrere Anfälle erlitten, und die Ärzte meinten, daß ihr intrakranieller Druck anstieg.
»Glauben Sie, daß das mit der computertomographisch gesteuerten Biopsie gestern zusammenhängt?« fragte Marjorie.
»Nein«, sagte Juanita Montgomery, die Oberschwester der Nachtschicht. »Dr. Mason war heute nacht um drei hier, nachdem sie wieder einen Anfall hatte. Er meinte, es sei wahrscheinlich auf die Therapie zurückzuführen.«
»Sie hat schon mit der Therapie begonnen?« fragte Janet.
»Aber sicher«, erwiderte Juanita. »Die Behandlung wurde noch in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, direkt nach ihrer Ankunft, begonnen.«
»Aber die Biopsie war doch erst gestern.«
»Das betrifft nur den zellulären Aspekt ihrer Therapie«, schaltete sich Marjorie ein. »Heute wird eine Plasmapherese durchgeführt, um T-Lymphozyten zu gewinnen, die wir anzüchten und für ihren Tumor sensibilisieren können. Aber mit der humoralen Behandlung wurde sofort begonnen.«
»Sie haben ihr Mannit gegeben, um den intrakraniellen Druck abzusenken«, fügte Juanita hinzu. »Offenbar hat es funktioniert, denn sie hat keinen weiteren Anfall gehabt. Nach Möglichkeit wollen sie den Einsatz von Kortison und einen Shunt vermeiden. Es ist unbedingt notwendig, ihren Zustand aufmerksam zu beobachten, vor allem nach der Plasmapherese.«
Sobald der Übergabebericht beendet und die übermüdete Nachtschicht gegangen war, begann die eigentliche Arbeit. Janet hatte gleich von Anfang an extrem viel zu tun. Auf ihrer Station lagen zahlreiche Patienten mit den verschiedensten Krebsarten und einem jeweils individuellen Therapieplan. Besonders ans Herz ging Janet die Begegnung mit einem engelhaften, neunjährigen Jungen, der zu seinem eigenen Schutz isoliert werden mußte, während er auf eine Knochenmarktransplantation wartete, um sein Mark wieder mit blutbildenden Zellen zu populieren. Man hatte ihn einer hochdosierten Strahlen- und Chemotherapie unterzogen, um sein leukämisches Knochenmark völlig zu zerstören. Deshalb war er im Augenblick allen Mikroorganismen wehrlos ausgeliefert, auch solchen, die für Menschen normalerweise nicht gefährlich waren.
Am späten Vormittag fand Janet endlich Gelegenheit, einen Moment lang Luft zu holen. Die meisten Schwestern gönnten sich eine Tasse Kaffee in dem Allzweckraum hinter dem Bereitschaftstresen, wo sie ihre müden Beine hochlegen konnten. Janet beschloß, die Zeit zu nutzen, um sich von Tim Katzenburg das Forbes-Computersystem erklären zu lassen. Jeder Patient hatte sowohl eine traditionelle Krankenakte als auch eine Computerdatei. Janet ließ sich von Computern in der Regel nicht einschüchtern, weil sie am College im Nebenfach Informatik belegt hatte. Aber es war trotzdem hilfreich, sich von jemandem, der mit dem System vertraut war, einweisen zu lassen.
Als Tim einen Moment lang durch ein Telefongespräch abgelenkt war, rief Janet Helen Cabots Datei auf. Da Helen noch nicht einmal achtundvierzig Stunden Patientin der Klinik war, war die Datei nicht sehr umfangreich. Es gab eine Computergraphik, die anzeigte, welcher ihrer drei Tumoren biopsiert worden war und die den Punkt der Schädeltrepanation direkt über dem linken Ohr
Weitere Kostenlose Bücher