Tödliche Gier
was es noch zu tun gab. Ich hatte eine Weile zugesehen und dann beschlossen, nach Hause zu fahren. Zu Abend gegessen hatte ich nichts. Ja, soweit ich mich erinnerte, hatte ich auch kein Mittagessen gehabt. Der Hunger hatte sich mindestens zweimal im Laufe des Abends gemeldet und wieder gelegt und war nun endgültig geschwunden, um mir an seiner statt bohrende Kopfschmerzen zu bescheren. Ich war aufgedreht und erschöpft zugleich, eine seltsame Mischung.
Zum Glück war wenigstens der Regen weitergezogen und die Temperatur gestiegen. Die Straßen schienen zu rauchen, da der Dampf in Schwaden nach oben stieg. Die Gehsteige waren nach wie vor nass, und von den Zweigen der Bäume tropfte das Wasser so leise wie Schnee. In den Rinnsteinen gurgelten muntere, von Schutt umgeleitete Minibäche auf ihrem Weg in den Abfluss und durch die Kanalisation ins Meer. Nach und nach zog Nebel auf und ließ die Welt gedämpft und diesig erscheinen. Mein Viertel sah ungewohnt aus, eine von Dunstschwaden verfremdete Landschaft. Alle Tiefen waren auf zwei Dimensionen abgeflacht, die nackten Zweige kaum mehr als mit Tinte gezogene Linien, die auf einem Blatt Papier verliefen. In meiner Wohnung herrschte Finsternis. Ich hatte das Haus um zehn Uhr morgens verlassen, vor gut zwölf Stunden, und so war ich nicht auf die Idee gekommen, mir ein paar Lampen einzuschalten. Bevor ich aufschloss, hielt ich kurz inne. Henrys Küchenfenster war hell erleuchtet und bildete ein kleines, gelbes Viereck in dem dichter werdenden Nebel. Ich steckte die Schlüssel in die Tasche und überquerte den gepflasterten Innenhof.
Ich spähte durch den oberen Teil seiner Hintertür. Er saß am Tisch, vor einem Wust von Papieren: stapelweise Arztrechnungen, Kopien von Schecks und Quittungen, alles in einzelne Häufchen sortiert. Er hatte seinen Bademantel an, ein zerschlissenes Teil aus blauem Flanell, unter dem ein blau-weiß gestreifter Schlafanzug hervorsah, dessen Hosenbeine über die abgetragenen Lederhausschuhe fielen. Auf den Boden neben seinen Füßen hatte er einen Papierkorb und den braunen Faltordner gestellt, den er benutzte, um Klotildes Rechnungen zu ordnen. Die Einkaufstüte mit Papieren, die Rosie ihm gegeben hatte, stand auf einem Stuhl und schien immer noch halb voll zu sein. Als ich kam, fuhr er sich gerade mit der Hand durchs Haar, mit dem Effekt, dass die Strähnen danach in drei Himmelsrichtungen abstanden. Er griff nach seinem Glas Jack Daniel’s und trank einen Schluck. Als er merkte, dass das Eis schon lange geschmolzen war, runzelte er die Stirn. Dann stand er auf, ging zur Spüle und schüttete den wässrigen Inhalt des Glases hinein.
Ich rief »Henry« und klopfte gegen die Scheibe. Er blickte herüber, von der Störung ungerührt, und bedeutete mir mit Gesten, einzutreten. Ich drehte am Knauf und zeigte darauf: »Die Tür ist abgeschlossen.«
Er öffnete mir. Während ich den Regenmantel auszog und über eine Stuhllehne hängte, machte er den Kühlschrank auf und nahm eine Hand voll Eiswürfel heraus, die er in sein Glas fallen ließ, bevor er frischen Whiskey darüber goss. Ich roch den Duft seiner nachmittäglichen Bäckerei — irgendetwas mit Zimt, Mandelaroma, Butter und Hefe.
Der Papierkrieg auf dem Tisch wirkte aus der Nähe noch schlimmer. »Sieht ja putzig aus. Wie läuft’s denn? Ich traue mich kaum zu fragen.«
»Grauenhaft. Einfach schrecklich. Die Zahlen sind völlig unsinnig. Ich komme nicht dahinter, wer wem was schuldet oder was davon bereits bezahlt ist. Ich hatte sie schon nach Datum sortiert, doch das hat sich als sinnlos erwiesen. Jetzt sortiere ich sie nach Arzt, Klinik und Maßnahme. Damit komme ich weiter. Ich weiß nicht, wie andere Leute je bei so was durchblicken. Es ist der blanke Hohn.«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst die Finger davon lassen.«
»Ich weiß, aber ich habe meine Hilfe versprochen, und ich hasse es, mein Wort zu brechen.«
»Ach, sei kein solcher Schlappschwanz und bring ihr den verdammten Kram zurück.«
»Und was soll sie dann damit anfangen?«
»Das kriegt sie schon hin, oder sie kann es William aufhalsen. Klotilde war schließlich seine Schwägerin. Warum sollst du dich damit herumplagen?«
»Sie tut mir Leid. Klotilde war ihre einzige Schwester, und das ist bestimmt hart für sie.«
»Sie mochte Klotilde nicht einmal. Sie haben kaum miteinander geredet, und wenn, dann haben sie sich gestritten.«
»Sei nicht so streng mit ihr. Rosie hat ein gutes Herz«, erwiderte er.
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