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Tödliche Gier

Tödliche Gier

Titel: Tödliche Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Nachdem er gelästert hatte, bekam er jetzt Schuldgefühle, weil er sich hinter ihrem Rücken beklagt hatte. Ich sah dem guten Mann an, dass Einwände bei ihm alles nur noch schlimmer machen würden.
    In Gedanken rollte ich die Augen. »Fürs Erste lasse ich dich vom Haken, aber ich gebe nicht auf.«
    Henry setzte sich an den Tisch. »Und was ist mit dir? Du siehst erledigt aus.«
    »Bin ich auch.« Ich hob einen Stapel Arztrechnungen vom Stuhl und stand dann ratlos da, weil ich nicht wusste, was ich mit ihnen anfangen sollte.
    Henry sprang auf. »Komm, lass mich die nehmen.« Er reichte mir sein Glas, während er die Papiere auf die eine Seite schob und auf dem Tisch Platz machte. Dann nahm er die Einkaufstüte und stellte sie zu dem Faltordner auf den Boden. Schließlich nahm er mir die Papiere aus der Hand und legte sie dazu.
    Ich dankte ihm und trank einen Schluck Jack Daniel’s, der mir durch Kehle und Magen glühte wie ein plötzlicher Anfall von Sodbrennen. Ich spürte, wie meine Anspannung nachließ, und merkte allzu spät, wie übermüdet ich war. Mein Kopf hatte begonnen, im gleichen Rhythmus wie mein Puls zu schlagen. Ka-womm, ka-womm. Ich gab Henry das Glas zurück und ließ mich auf den Stuhl sinken, den er gerade freigeräumt hatte.
    »Was ist denn los?«
    »Wir haben Dr. Purcells Wagen und seine Leiche gefunden — vorausgesetzt, er ist es. Ich kann eigentlich noch gar nichts darüber sagen. Lass mir ein paar Minuten, um mich zu sammeln.«
    »Soll ich dir einen Drink machen?«
    »Ich glaube nicht, aber wenn du Tylenol da hast, hätte ich gern ungefähr vierzig Stück, am liebsten die extrastarken.«
    »Ich habe etwas Besseres. Bleib, wo du bist.«
    »Kein Problem. Ich bin sowieso bewegungsunfähig. Gleich erzähle ich dir alles, wenn ich nicht vorher umkippe.«
    Ich verschränkte die Arme vor mir auf dem Tisch und legte den Kopf darauf. Sofort merkte ich, wie mein Körper schlaff wurde. Das war die Position, die wir im Kindergarten immer vor unserem Nickerchen eingenommen hatten, und sie bedeutet nach wie vor den Gipfel der Entspannung für mich. Im Alter von fünf Jahren lernte ich, im Tiefschlaf zu versinken, sowie mein Kopf auf den Armen auftraf. Zehn Minuten später wachte ich regelmäßig wieder auf. Dann prickelten die Nervenenden in meinen Fingern infolge der mangelnden Durchblutung, und meine Wangen brannten von Träumen.
    Ich hörte, wie Henry zum Kühlschrank ging und Behälter auf die Arbeitsfläche stellte. Ich lauschte dem friedlichen Klappern von Gläsern und Besteck. Es war, als läge ich im Krankenbett und hörte heimelige Geräusche aus dem Nebenraum dringen. Ich musste erneut kurz eingedöst sein — es war das gleiche flüchtige Ausblenden der Aufmerksamkeit, das einen von der Landstraße abkommen lässt, wenn es einen am Steuer überfällt. Der Ton erlosch und kehrte wieder zurück, ein kurzes Abgleiten in die Bewusstlosigkeit. »Was machst du eigentlich?«, murmelte ich, ohne den Kopf zu heben.
    »Ich mache dir ein Sandwich.« Henrys Stimme schien von sehr weit her zu kommen. »Roastbeef mit roter Zwiebel, die ich hauchdünn geschnitten habe.«
    Ich stützte den Kopf auf eine Faust und sah ihm zu, wie er zwei dicke Scheiben selbst gebackenes Brot nebeneinander legte und sie großzügig mit Mayonnaise, würzigem braunem Senf und Meerrettich bestrich. »Das ist zwar ziemlich brutal, aber du brauchst etwas Deftiges. Möbelt dich auf.« Er schnitt das Sandwich in zwei Hälften und legte es mit einem Zweig Petersilie neben einer Garnitur aus Gewürzgurken, Oliven und Pepperoncini auf einen Teller.
    Er stellte den Teller vor mich hin und kehrte zum Kühlschrank zurück. Dort öffnete er das Eisfach und nahm einen Bierkrug heraus, der so kalt war, dass sich auf der Stelle Raureif auf dem Glas bildete, als es auf Luft traf. Er machte eine Flasche Bier auf und schenkte es langsam an der Seite des Kruges entlang ein, um keinen Schaum entstehen zu lassen. Schließlich nahm er sein Whiskeyglas und setzte sich mir gegenüber.
    Ich biss von dem Sandwich ab. Der Meerrettich war so scharf, dass er mir die Tränen in die Augen trieb. Beißende Dämpfe wallten durch meine Nebenhöhlen, bis mir auch die Nase zu laufen begann. »Hmm. Das ist sagenhaft. Nicht zu fassen, wie gut das schmeckt. Du bist ein Genie.« Ich hielt inne und benutzte meine Papierserviette zum Schnäuzen. Das Roastbeef war saftig, und seine kalte Zartheit bildete den idealen Kontrast zur Schärfe, Salzigkeit und Säure der

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