Tödliche Gier
trennte die High-Tech-Küche von einer Essecke, die auf den Strand hinausging. Zur Rechten gab es eine Treppe, die ich sehnsüchtig musterte. Im ersten und zweiten Stock lagen vermutlich die Schlafzimmer und vielleicht ein Arbeitszimmer, in dem sämtliche deftigen Papiere aufbewahrt wurden. Vermutlich wurde ihre gesamte Post ohnehin an den Hauptwohnsitz in Horton Ravine geschickt, was eine Erklärung dafür gewesen wäre, dass nirgends Briefe zu sehen waren.
Ich hörte, wie jemand durch das Zimmer direkt über mir ging — das gedämpfte Tappen nackter Füße auf nacktem Holz. Ohne nachzudenken blickte ich nach oben und folgte dem Geräusch. Erst jetzt merkte ich, dass es ein »Fenster« in der Decke gab — ein vielleicht neunzig mal neunzig Zentimeter großes Quadrat aus Glas oder Plexiglas, das den Blick ins Zimmer darüber freigab. Verblüfft sah ich Crystal Purcell nackt durch mein Blickfeld stolzieren. Eine halbe Minute später kam sie die Treppe herunter, nach wie vor barfuß und in ausgewaschenen Jeans, die so tief geschnitten waren, dass ihr Bauchnabel heraussah. Ihr kurzes T-Shirt war grau und hatte einen vom jahrelangen Tragen völlig ausgeleierten Kragen.
Ihr Haar, von einem noblen Salon blondiert, war ein bisschen länger als schulterlang und umrahmte ihr Gesicht in einem Gewirr weicher Locken. Ein paar Strähnen im Nacken waren noch feucht vom Duschen. Sie streckte die Hand aus und sagte: »Hallo, Kinsey. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Ich war gerade beim Joggen und wollte mir erst den Schweiß und den Sand abwaschen.« Ihr Händedruck war fest, ihre Stimme sanft und ihre Art liebenswürdig, aber zurückhaltend. »Wo ist Anica? Ist sie schon weg? Ich hatte sie gebeten, Ihnen Gesellschaft zu leisten, bis ich herunterkomme.«
»Sie ist gerade erst gegangen. Sie lässt ausrichten, dass Sie sie anrufen möchten, sobald Sie Zeit haben.«
Crystal ging in die Küche und sprach in meine Richtung, während sie an den Edelstahlkühlschrank trat und eine Flasche Wein herausnahm. »Sie ist ein Geschenk des Himmels, vor allem, wenn Leila am Wochenende hier ist. Es ist so schon schlimm genug, auch ohne dass ich mir ihretwegen noch Sorgen machen muss. Anica ist pädagogische Beraterin an Leilas Privatschule.«
»Das hat sie mir erzählt. Muss schön sein, sie so in der Nähe zu haben.«
»Sie ist eine gute Freundin. Eine der wenigen, könnte ich hinzufügen. Dows Bekannte aus Horton Ravine erachten mich als nicht gesellschaftsfähig.«
Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte sagen können, also hielt ich den Mund. Ich trat an den Tresen, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Vor mir ruhten die Reste von Griffs Abendessen. Auf dem Tablett seines Hochstuhls aus Chrom und Plastik war ein dreiteiliger Teller mit Beatrix-Potter-Motiven stehen geblieben, auf dem vor sich hin trocknende Rühreireste, Toastränder und ein Tupfer Apfelmus lagen. Ein Lätzchen hing über dem Stuhlrücken.
»Seit wann kennen Sie sie?«
»Noch gar nicht besonders lang. Seit irgendwann Anfang letzten Frühlings. Ich habe sie erst am Strand gesehen und dann am Fitch, bei einem dieser grauenhaften Elternabende. Hat sie Ihnen einen Drink angeboten?«
»Ja. Aber ich hielt es für besser, jetzt noch nichts zu trinken.«
»Wirklich? Weshalb?« Sie nahm einen Korkenzieher aus der Küchenschublade und machte sich daran, die Flasche zu öffnen, nachdem sie sich ein Glas aus dem Schrank geholt hatte.
»Ich weiß nicht. Es kommt mir unprofessionell vor. Schließlich bin ich ja geschäftlich hier.«
Nachdenklich nahm sie ein zweites Glas heraus und hielt es in die Höhe. »Sind Sie sicher? Es wird nicht gegen Sie verwendet. Wir können uns raus auf die Terrasse setzen, Wein picheln und dabei den Sonnenuntergang betrachten.«
»Ach, na gut. Warum nicht. Sie haben mich überredet.«
»Super. Ich hasse es, alleine zu trinken.« Sie hielt mir Gläser und Flasche hin. »Wenn Sie die nehmen, mache ich uns einen Teller Fläppchen. Dann werden wir nicht beschwipst — oder jedenfalls nicht beschwipster, als wir wollen.«
Ich nahm die Gläser in die Hand, so dass die Stiele ein X bildeten, und steckte mir die Weinflasche in die Armbeuge. Dann durchquerte ich den großen Raum und stieß mit dem Ellbogen eine der Glastüren auf. Draußen angekommen, stellte ich alles auf den verwitterten Holztisch zwischen den beiden hölzernen Segeltuchstühlen. Der Wind, der vom Meer her blies, war feucht und roch durchdringend, wie ein Austernlikör. Ich
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