Toedliche Hoffnung
sitzt Joana Rodrigues und liest ihr psychologisches Lehrbuch. Dort wird gleich Marlene Hirtberger über den Platz schlendern, um die Aussicht von der Terrasse zu genießen, unterwegs wird ihre Aufmerksamkeit jedoch von etwas anderem gefesselt. Einem richtigen Augenschmaus.
Ich sah Marlene Hirtberger vor mir, und ich sah Joana Rodrigues. Ich sah den Skateboard fahrenden Dreizehnjährigen, der gekommen war, um den Tod herauszufordern. Dann positionierte ich sie alle auf ihren Plätzen. Es war mir wichtig gewesen, zur richtigen Zeit zu kommen, wenn die Schatten so fielen wie an besagtem Tag. Erst nachdem alle Rollen besetzt waren, schickte ich Patrick auf die Bühne.
Ich leerte meine Tasse und stand auf, um mir den Ort näher anzusehen. Eine achtzehn Meter lange Brücke führte zum eigentlichen Aussichtspunkt, sie wurde an beiden Seiten von hohen, weißen Mauern begrenzt. Hier war der waghalsige Jorge Skateboard gefahren. Ich schielte auf der linken Seite nach unten. Bei einem Sturz wäre er entweder zehn Meter tief im Brennnesselgestrüpp gelandet oder beim Aufprall auf eine Steintreppe gestorben.
Die eigentliche Terrasse war zwölf Meter breit, zweiundzwanzig Meter lang und von einem niedrigen Geländer umgrenzt.
Eine Person über dieses Geländer zu stoßen, war keine große Kunst, stellte ich fest, als ich über den gepflasterten Platz bis zu der Ecke ging, in der Jetjenko gestanden hatte. Das Geländer war einen Meter hoch, es reichte mir bis zum Bauchnabel.
Hier stehe ich, dachte ich. Michail Jetjenko. Ich warte auf einen amerikanischen Journalisten. Er ist mein Ticket nach Brasilien, indie Freiheit, mein neues Leben, ich sehe seiner Ankunft entgegen, aber ich schaue nicht in die Richtung, aus der er kommen wird. An diesem Ort muss man sich dem Fluss zuwenden, der einzigartigen Aussicht auf das Fahrwasser, auf dem Eroberer und Pioniere von Lissabon aus gen Amerika segelten, und wenn ich tief einatme, kann ich den Atlantik als ewigen Duft von Salz und Träumen wahrnehmen.
Ich beugte mich über das Geländer. Dort in der Tiefe lag die Gasse, zwanzig Meter unter mir. Kopfsteinpflaster. Mir schauderte, ich trat einen Schritt zurück.
Er hat nicht einmal bemerkt, dass sie kamen, dachte ich. Sie mussten hier stehen geblieben sein, höchstens einen Meter von ihm entfernt. Jetjenko, sagen sie, und er dreht sich um. Richten sie Grüße vom Chef aus? Lassen Sie von Monsieur Thery grüßen, bevor sie ihn über das Geländer befördern?
Was sieht Patrick, der just in diesem Moment auf dem Weg hierher ist, um den Mann zu treffen, der sich Josef K. nennt?
Ich ging rasch auf den Bürgersteig zurück, wo das Café lag. Wie war Patrick dorthin gekommen? Vermutlich mit der Straßenbahn, um in der Menge unterzutauchen, aber er war sicher so vorsichtig, eine Haltestelle früher auszusteigen, und war das letzte Stück auf dem schmalen Bürgersteig entlang der weißgekalkten Hauswand gegangen. Die Aufregung macht sich als dumpfes Klopfen in seinem Körper bemerkbar, all seine Sinne sind hellwach. Er sieht sich achtsam um und lauscht und nähert sich behutsam. Er nimmt das Quietschen der Straßenbahn und den Duft von gegrilltem Fisch wahr, den kühlen Schatten und die Musik, die aus irgendeiner Bar dringt; jetzt ist er seinem Ziel nahe. Aber dreht er sich um? Ahnt er, dass man ihm folgt?
Ich blickte den Hügel hinab, wo eine weitere Straßenbahn auftauchte und dann an mir vorüberfuhr, ein gebeugter, alter Mann mühte sich bergauf.
Falls sie Patrick gefolgt waren, hätte er vor den Angreifern auf der Terrasse sein müssen.
Sie mussten auf ihn gewartet haben.
Irgendwie hatten sie erfahren, dass Patrick Jetjenko treffen wollte. Der Ukrainer war auf der Terrasse gefangen wie ein Tier im Käfig, aber sie konnten nicht abwarten, bis Patrick ebenfalls dort war. Einen Mann über die Brüstung zu stoßen war einfach. Zwei waren ein zu großes Risiko.
Ich stellte mich an den Anfang der Brücke, dorthin, wo Jorge sein Skateboard in Bewegung gesetzt hatte. Hier hatte Patrick gestanden, als die Männer Jetjenko auf die andere Seite befördert hatten. Er musste gesehen haben, wie es geschah. Ich stellte mir vor, dass der Schock ihn wie eine Druckwelle traf. Die wenigen Sekunden, die die beiden Männer brauchten, um sich umzudrehen und wegzurennen, mit dem Skateboarder zu kollidieren und zu verschwinden, musste er erstarrt dagestanden haben. Patrick hatte sich nach ihnen umgedreht und direkt in Marlene Hirtberges lüsterne Augen
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