Toedliche Hoffnung
zeigte in Richtung Meer. »Wir wissen, dass es vermutlich unterging, oder sie sprangen vor der Küste ins Wasser. Manchmal werden sie dazu gezwungen, damit der Kapitän rechtzeitig abhauen kann, bevor wir ihn zu fassen kriegen. Vielleicht sind sie dieses Mal zu früh gesprungen.« Er umrundete den Schreibtisch und ging zu einer Wandkarte. »Eine der Leichen wurde hier angespült«, sagte er und schlug energisch mit dem Stift auf einen Platz auf der Karte, wo Land und Meer sich trafen. »Und am Tag davor hatten wir zwei in Cádiz, einen Mann und eine Frau. Sie war im sechsten oder siebten Monat schwanger. Insgesamt haben die marokkanische Küstenwacheund wir in der letzten Woche sieben Leichen gefunden.«
Ich schälte mich aus meiner Jacke.
»Er hatte hier eine Tätowierung«, sagte ich und zog den Ausschnitt meines Pullovers über die linke Schulter herunter. Der Blick des Mannes kroch auf meiner Haut entlang, als ich die Tätowierung entblößte: die beiden Blumenranken, die sich trafen und ineinander schlangen, der Name, der für immer eingeritzt war. Patrick.
»Auf seiner Tätowierung steht Alena «, sagte ich. »Ich weiß, dass der Mann am Strand genau so eine hatte.«
Der Polizist ging einige Schritte auf mich zu. Beugte sich herab. Drückte mit einem Finger auf meine Tätowierung, strich darüber. Sein Atem war dicht an meinem Ohr.
Mich schauderte, doch ich hielt still. Dann ging ich um den Schreibtisch herum und setzte mich wieder.
»War Ihr Mann ein Wassersportler?«, fragte er schließlich.
»Wie bitte?«
»Tarifa ist bei Surfern sehr beliebt.« Er lehnte sich zurück und kippelte mit dem Stuhl. »Kitesurfer und Windsurfer aus der ganzen Welt kommen hierher, aus England, Skandinavien, ganz Europa. Sie haben keinen Respekt vor den Winden und dem Wasser, sie glauben, alles wäre ein Spiel dort draußen auf dem Meer. Unter ihnen gibt es sicher auch ein paar Amerikaner.«
Patrick als Surfer. Die Idee war so idiotisch, dass ich mich erst kaum zu einer Antwort durchringen konnte. Wenn er vor etwas Angst hatte, dann waren es tiefe Gewässer. Ich schüttelte den Kopf.
»Er kann kaum schwimmen.«
Der Polizist beugte sich vor und drückte auf einen Knopf an der Seite des Schreibtischs. Die Tür wurde geöffnet, und ein junger Mann schaute herein.
»Holen Sie mal die Unterlagen über den Afrikaner vom letzten Montag.«
Als die Tür hinter dem jungen Polizisten zuschlug, lehnte sichder Beamte über den Schreibtisch, seine durchdringenden Augen hefteten wie Kletten an mir.
»Ich bin seit vierzehn Jahren bei dieser Polizeieinheit«, sagte er. »Ich kenne diese Grenze, ich weiß, was abläuft. Neue Ideen verbreiten sich auf beiden Seiten wie ein Lauffeuer. Eine Zeitlang hatten wir jede Woche überladene pateras, die auf unser Gebiet vordrangen, und dann, als wir die Radarüberwachung eingeführt hatten, kam es in Mode, sich unter die Autokarosserien auf der Fähre aus Tanger zu hängen. Anschließend waren es die Tankschiffe; ich habe schon fast alles erlebt.« Er lachte und verschränkte die Hände im Nacken. »Aber es ist das erste Mal, dass jemand behauptet, ein Amerikaner hätte versucht, die Meerenge zu überqueren.«
»Das habe ich doch auch gar nicht behauptet«, sagte ich. »Er wurde ermordet.«
Der untergebene Polizist kam mit einer Mappe herein, die er dem Chef überreichte. Er schielte zu mir herüber. Ich zog den Pulloverausschnitt, der noch immer unterhalb meiner Schulter hing, wieder zurecht.
Der Polizist hinter dem Schreibtisch schlug die Mappe auf und holte einige Fotos heraus. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Körper. Ich richtete mich halb auf, und er schob mir drei Bilder hin.
Das Erste zeigte Patrick in voller Größe, an einem Strand liegend. Er war nackt. Er hat geschrien, dachte ich, er schrie, als sie ihn ins Meer warfen. Mir schwirrte der Kopf. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Zwang mich hinzusehen, legte die Finger auf das Foto. Blanke Oberfläche. Tot.
Das nächste Bild war eine Nahaufnahme. Ich legte es schnell weg. Ich wusste es ja bereits. Wollte nicht, dass dies zu meinem letzten Bild von Patrick wurde, dass es sich vor den Kuss drängte, den er mir gab, bevor er ins Taxi stieg und nach Newark fuhr, um den Flug nach Paris zu nehmen. Ich trocknete mir das Gesicht mit dem Ärmel und zwang mich dazu, das letzte Bild anzusehen.
Es zeigte die Tätowierung auf seiner Schulter, die Blumen, die sich um meinen Namen rankten, wie etwas, das Botticelli
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