Toedliche Hoffnung
Suchmeldung im Fernsehen. Eines Tages, so dachte ich damals, würde er vor meiner Tür stehen und erzählen, wie er sein Leben dabei riskiert hatte, den Eisernen Vorhang zu durchbrechen und seine geliebte Tochter zu finden.
»Schlag dir deine dummen Phantasien aus dem Kopf«, schrie meine Mutter. Noch immer hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf widerhallen. »Kapierst du es denn nie? Er ist abgehauen, weil er keine Lust hatte, sich um ein Balg zu kümmern!«
»Das ist nicht wahr«, schrie ich zurück. »Er kam ins Gefängnis, das hast du selbst gesagt.«
»Lügen«, brummelte sie, »alles Lügen ...«
»Dann sag wenigstens, wie er heißt«, flehte ich.
»Damit du erst recht versuchst, ihn zu finden!«, entgegnete sie.
»Wie sollte ich denn, wenn er im Gefängnis starb?«
»Ob es so war, wissen wir doch gar nicht.«
»Aber das hast du doch gesagt.«
»Das habe ich nicht.«
So ging es hin und her. Ich konnte nicht mehr länger unterscheiden, was sie tatsächlich gesagt und was ich selber erfunden hatte. Ich hatte nur eine einzige, deutliche Erinnerung an meine Kindheit in Prag:
Ich bin drei Jahre alt und sitze auf dem Treppenabsatz vor einer Haustür. Es ist Abend. Eine einzelne Laterne leuchtet hoch oben von ihrem Pfahl herunter und taucht den Hof in gelbgraues, verschwommenes Licht, in dem keine klaren Konturen erkennbar sind. Einige Mülltonnen stehen herum, an der Wand lehnt ein altes Fahrrad. Ich friere an Beinen und Händen. Ich trage nur meinen hellblauen, dünnen Pyjama und braune Schuhe mit Schnürsenkeln. Im Treppenhaus ruft meine Mutter nach mir. »Komm endlich, Kind«, schreit sie, »wenn du jetzt nicht kommst, schließe ich ab, und dann musst du die ganze Nacht draußen sitzen.«
Aber ich gehe nicht hinein, denn ich warte auf meinen Vater.
Dann höre ich ihre Schritte, sie hallen wider und vermehren sich zu einer ganzen Schar von Schritten, hinter mir wird die Tür aufgerissen und meine Mutter packt mich fest am Arm. Ich baumle wie ein nasser Sack in der Luft. »Jetzt kommst du rein«, zetert sie, und ich strample und winde mich, um loszukommen, und schreie »ne ne«.
»Ich muss auf Papa warten«, kreische ich, »er kommt gleich.«
»Sieh mich an«, brüllt sie, aber ich kneife die Augen zusammen. »Er kommt nicht mehr«, sagt sie, »kapierst du das denn nie?« Und dann schleift sie das Kind die Treppen hoch, dessen Beine gegen den Steinboden schlagen. Im Treppenhaus dröhnt es, als die Tür zufällt.
Und das ist alles, woran ich mich erinnern kann.
Das wenige, was ich über meinen Vater wusste, hatte ich nie jemandem erzählt – bis ich Patrick traf. Er hörte nicht auf zu fragen. All diese Dinge waren wichtig für ihn. Wo man herkam, wer man war.
»Ich will alles über dich wissen«, sagte er und zog mich an sich, »bis ins kleinste Detail.«
»Und ich will mehr Wein«, antwortete ich. An dem Abend, als ich zu erzählen begann, saßen wir bei ihm zu Hause, auf einem kleinen Sofa, das zwischen Küche und Bett eingeklemmt war. Das war, bevor wir die Wand zwischen den Zimmern entfernt hatten und ich einzog. Diese erste, verzauberte Zeit.
»Was weißt du über den Prager Frühling?«, fragte ich.
Patrick entkorkte eine Flasche Rotwein.
»Sie versuchten, das Land zu demokratisieren, sich zu öffnen, politische Gefangene freizulassen und so weiter«, antwortete er. »Eine Art Glasnost, zwanzig Jahre zu früh, das beendet wurde, als die sowjetischen Panzer 1968 ins Land rollten.«
»Der politische Aspekt war nur ein kleiner Teil davon«, sagte ich, »ansonsten geschah dasselbe wie in Paris und den USA und überall sonst im Jahr 68, es gab Hippies und Rock’ n’ Roll und freie Liebe, man wollte kiffen und in der Gegend rumvögeln.«
Patrick schenkte uns Wein ein und setzte sich wieder neben mich.
»Und das hörte mit dem Einmarsch der Russen keineswegs auf«, fuhr ich fort. »Man spielte weiterhin wilde Musik und machte auch mit allem anderen weiter, wenn die Bürokraten gerade nicht hinsahen. Ich bin das Ergebnis eines Kellerkonzerts und großer Mengen Marihuanas, könnte man sagen.«
»War dein Vater Musiker?«
»Er spielte in irgendeiner Band, an deren Namen ich mich nicht erinnere, aber einmal habe ich gehört, wie meine Mutter erzählte, dass er als Reserve bei den Primitives einsprang. Hast du von denen schon mal gehört?«
»Ich glaube nicht ...«
»Eine der vielen Sechziger-Jahre-Bands in Prag. Einige Bandmitglieder haben später die Plastic People of the Universe
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