Toedliche Hoffnung
war. Dass er nicht einfach wieder ging, nachdem er mich kennengelernt hatte.
»Ich wäre an deiner Stelle zurückgefahren und hätte nach ihm gesucht«, sagte er. »Ich wäre besessen davon zu erfahren, wo ich herkomme.«
»Es war zu weit weg, wir hatten kein Geld. Sie wollte nicht. Außerdem verlor sie in den letzten Jahren ihr Gedächtnis.« Ich trank einen Schluck Wein. »Und wie auch immer, jetzt ist sie tot.«
Patrick strich mir das Haar aus dem Gesicht und ich wünschte, er würde mich nicht so eindringlich ansehen. Dieser Blick, der mich dazu brachte, ganz ich selbst sein zu wollen.
»Kurz vor dem Fall des kommunistischen Regimes durften die Plastic People wieder auftreten«, sagte ich, »allerdings unter der Bedingung, dass sie ihren Namen änderten.«
»Sag nicht, sie haben sich darauf eingelassen?«
»Warum hätten sie es nicht tun sollen? Sie baten ja nicht darum, Helden zu sein, sie wollten einfach nur Musik machen.«
Ich hatte gelesen, dass die Band sich zunächst nicht einig war, doch am Ende hatten sie den Namen Pulnoc gewählt, was Mitternacht bedeutet, denn erst um Mitternacht wagten sich die sonderbaren Menschen auf die Straße. Der Albtraum von den freien Menschen, der jeden Bürokraten plagte: diejenigen, die sich nicht fangen oder regieren ließen, die ihre eigenen Wege gingen und Grenzen verschoben, diejenigen, die sich nicht den Normen beugten, nicht gehorchten oder sich einschüchtern ließen, die Fantasten und die Verrückten. Die plastic people eben.
»Aber nach der Samtenen Revolution nahmen sie natürlich wieder ihren alten Namen an und gingen als Legende auf Tour. Sie gaben sogar ein Konzert in der Knitting Factory .«
»Warst du dort?«
Ich schüttelte den Kopf. Damals war ich fünfundzwanzig gewesen. In Schale geworfen und geschminkt. Mit einem Bier in der Hand und Herzklopfen hatte ich zu Hause auf dem Bett gesessen und überlegt, was ich sagen sollte, wenn ich nach dem Konzert zu ihnen ging. Alles was ich wusste war, dass zwei der Bandmitglieder einmal mit meinem Vater zusammen gespielt hatten. Vielleicht. Vor dreißig Jahren.
»Ich bin nicht hingegangen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich keinen Namen hatte«, sagte ich, sah auf meine Hände und schluckte. »Ich wusste nicht, nach wem ich fragen sollte.«
PARIS
DONNERSTAG, 25. SEPTEMBER
Der Wind erfasste den Stadtplan und riss ihn mir fast aus den Händen. Ich stopfte ihn wieder in die Tasche und ging, so schnell es meine neuen Schuhe zuließen. Das Viertel war stadtplanerisch völlig vernachlässigt, mit baufälligen Bruchbuden und vereinzelten Hochhäusern, die wie graue Zeigefinger in den Himmel ragten – ein Zeichen gegen Gott und den Rest der Welt. An den Hauswänden lungerten Männer herum, und ich musste einem Dealer ausweichen, der auf mich zukam und seine Ware anpreisen wollte.
Normalerweise hätte ich in einem solchen Gebiet Turnschuhe und eine Kapuzenjacke getragen und mich leicht gebeugt mit großen Schritten bewegt, damit niemand von Weitem erkennen konnte, ob ich ein Mann oder eine Frau war. Doch nun hatte ich mich zu Madame Alena Sarkanova herausgeputzt, die in zwei Stunden im Taillevent zu speisen gedachte, in Pumps und einem dünnen Mantel. Ich hatte den frühen Vormittag damit zugebracht, mich in den günstigsten Boutiquen, die ich rund um das Hotel finden konnte, neu einzukleiden. Fast kam es mir vor, als wäre ich wieder zurück bei der Arbeit und müsse eine neue Rolle ausstaffieren. Als ich mit allem fertig war, blieben mir noch immer einige Stunden Zeit, und ich beschloss, die am nördlichsten gelegenen Adressen auf meiner Liste abzuklappern.
Die Hausnummer 61 musste ein Stück entfernt auf der anderen Straßenseite liegen. Ich stemmte mich mit gebeugtem Kopf gegen den Wind, als ich den Boulevard Michelet überquerte. Deshalb sah ich das Haus erst, als ich schon davorstand.
Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen.
Vor mir erhob sich eine gespenstische, schwarze Ruine. Die Fenster waren Löcher inmitten des Dunkels. Man konnte den Himmel durch das sechste Stockwerk hindurch sehen, wo das Dach eingebrochen war und die Wand mitgerissen hatte. Im dritten Stock stand das Skelett eines ausgebrannten Bettes. Noch immer hing ein Anflug des stechenden Brandgeruchs in der Luft.
Es hatte gebrannt, dachte ich, und die Angst schnürte mir die Kehle zu. Es hatte in jener Nacht gebrannt. Patrick hatte etwas auf Französisch in den Hörer geschrien, sich dann auf den Weg gemacht, und es war dieser Ort, an
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