Toedliche Hoffnung
lesen, dass die weiblichen Einwanderer in der Regel schwanger waren. Entweder sorgten sie vorher selbst dafür, um ihre Chancen darauf zu erhöhen, in Europa bleiben zu dürfen, oder sie wurden auf der Flucht vergewaltigt.
Sofern sie nicht genau aus dem Grund flüchtete, dachte ich: dass sie bereits in ihrer Heimat schwanger waren und ihrem Kind ein besseres Leben in Europa ermöglichen wollten.
Ich klickte auf ein weiteres Dokument. Eine junge schwedische Touristin hatte an einem Strand im südspanischen Tarifa die Leiche eines afrikanischen Migranten gefunden. Das Mädchen wurde interviewt und erzählte, wie schrecklich es gewesen sei, einen toten Menschen zu sehen. Er habe beinahe lebendig gewirkt im Wasser, mit einer Tätowierung, außerdem sei er völlig nackt gewesen, und dies sei ein Strand, wo die Menschen normalerweise badeten und surften, was für ein schrecklicher Schock! Auch der Vater des Mädchens kam zu Wort und erboste sich da rüber, wie so etwas geschehen konnte, die Reisegesellschaft sei ihnen weder mit Informationen noch mit Unterstützung behilflich gewesen. Einige Tage später hatte man weitere Tote in der Nähe von Cádiz gefunden, nicht weit von dort entfernt. Die spanische Polizei glaubte zunächst, es handele sich um ein gekentertes Gummiboot. In der schmalen Meerenge zwischen Marokko und Spanien konnten die Wellen mehrere Meter hoch werden.
Ich schluckte. Die Übelkeit war wieder da. Noch am Vormittag hatte ich im Internet zum Thema Schwangerschaft recherchiert und gelesen, dass es häufig schon half, eine Kleinigkeit wie eine Karotte oder einen Keks zu essen. Obwohl ich noch immer satt war, kaufte ich mir zwei Cantuccini. Mir fiel siedend heiß ein, dass ich Benjis Anruf zweimal hintereinander weggedrückt hatte. Ich rief ihn zurück, während ich die Artikel weiter vor meinen Augen durchlaufen ließ, um zu sehen, ob noch ein Name auftauchen würde, etwas, das ich verwenden konnte.
»Ally!«, rief er aus, »endlich, wie läuft es, wie geht es dir, wie ist das Leben in Paris?«
»Gut«, log ich.
»Und, hast du ihn ...«
»Wie war die Premiere«, unterbrach ich ihn schnell und fühlte mich dämlich berührt, seine Stimme zu hören.
»Was ist denn, du klingst so komisch, bist du sicher, dass es dir gut geht?«
Angesichts seiner Besorgnis schnürte sich mir die Kehle zu. Frag nicht nach Patrick, bat ich innerlich, sag nichts darüber.
»Nur ein bisschen verschnupft«, log ich, »aber Paris ist großartig. Was haben die Zeitungen geschrieben?«
Ihn plaudern zu hören, wirkte wie eine Beruhigungsspritze auf mich. Dort drüben ging das Leben noch immer seinen Weg, nur ich war abwesend. Die Besprechungen in fast allen wichtigen New Yorker Zeitungen seien fantastisch, zwitscherte Benji, sie sprächen von der Neuschöpfung einer Tiefe, die klassisch sei und dennoch alle Konventionen hinter sich ließe, bis auf einen Kritiker, der meinte, die Inszenierung als Ballett sei ein Mord an der textuellen Seele von Tschechows Dramatik. Und auf der anschließenden Premierenfeier habe sich eine sternhagelvolle Leia an Duncan festgeklammert, dessen Interesse zu diesem Zeitpunkt bereits zu dem Mädchen übergegangen sei, das die Mascha spielte.
»Womit wir wieder bei der ewigen Frage angelangt wären, welche Berufsgruppe im Verhältnis zu ihrem Arbeitseinsatz den meisten Sex herausschlägt«, fuhr Benji fort. »Sollte man Choreograf werden oder Sänger, oder doch lieber Sektenführer?«
Den Rest hörte ich nicht mehr. Ein neuer Artikel hatte sich aufgebaut, dessen Worte sich aus eigener Kraft ihren Weg zu mir bahnten.
»Du, ich ruf dich später noch mal an«, sagte ich und legte auf.
Der Text handelte von einem weiteren Boot mit Migranten, das die Kanarischen Inseln erreicht hatte. An Bord befanden sich dreizehn Männer und eine sterbende Frau. Die Frau hatte die Reise mit ihrem Säugling angetreten, den sie stillte. Als Essen und Trinkwasser ausgingen und aus den angekündigten drei Tagenauf dem Meer schließlich fünf, sechs, eine ganze Woche wurden, hatten sich die Männer auf die Mutter gestürzt, die einzige Nahrung, die es auf dem Boot noch gab. Sie hatten die Milch aus ihrem Körper gesaugt, bis nichts mehr von ihr übrig war; wie eine leere Hülle war sie vom Roten Kreuz an Land getragen und in ein Krankenhaus in Los Cristianos gebracht worden, wo man nur noch ihren Tod feststellen konnte.
Ich loggte mich aus und fuhr den Computer herunter, doch der Text war noch so lange auf dem
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