Toedliche Luegen
ins Ohr: „Hab uns schon mal was zum Frühstück besorgt. Muss sagen, es is’ leichtsinnig, verdammt leichtsinnig, in dieser Gegend mit so ’ner fetten Geldbörse spazieren zu gehen. Ich hab ’se in Sicherheit gebracht, bevor noch wer auf dumme Gedanken kommt.“
So muss Rumpelstilzchen aussehen, ging es Alain durch den Kopf. K aum größer als ein Zwölfjähriger und von übermäßigem Alkoholgenuss ausgezehrt, hüpfte der Alte mit dem schütteren Haar vor ihm wie ein Gummiball auf und ab. Weihnachten und Ostern mussten für ihn auf diesen Frühsommertag zusammengefallen sein. Er schien sich diebisch zu freuen und Gott und der Welt zu danken, dem stinkreichen Alain Germeaux begegnet zu sein.
„Meine Jacke“, murmelte er noch einmal und schlug die Arme um seinen Oberkörper.
„Ja, ja, is’ schon gut, da nimm.“ Beleidigt warf ihm Rumpelstilzchen die schwere Motorradjacke zu. „Hätte mir eh nicht gepasst.“
Am ganzen Körper schlotternd zog sich Alain an und versuchte mit klammen Fingern, seine langen Haare zu ordnen. Der Alte hatte offensichtlich sämtliche Taschen geleert, denn nicht einmal mehr seinen Kamm konnte er finden.
„Die … Tabletten.“
„Tabletten?“, echote der Alte mit Unschuldsmiene und drehte die leeren Hände hin und her.
„Gib her. Sie nützen dir nichts.“
Widerwillig zog Rumpelstilzchen mehrere Schachteln aus seiner Hosentasche und warf sie ihm zu.
Mit einem flüchtigen Blick auf die im Gras verstreuten Packungen brummelte der junge Mann: „Zwei … fehlen.“
Der Clochard kehrte seine löchrigen Taschen nach außen und hob erneut begütigend die verdreckten Hände. „Kein Problem, Junge. Kaufst dir eben neue. Es is’ noch genug Geld da. Nimm erst mal ’nen ordentlichen Schluck, dann wird dir warm“, ermutigte ihn der Säufer.
Verwun dert sah er, wie Alain vorsichtig seinen Kopf zu diesem gut gemeinten Vorschlag schüttelte und tief Luft holte.
„Bist an das Leben draußen nicht gewöhnt, das merkt man sofort. Komischer Vogel. Wirklich. Komisch.“ Aber er drängte den jungen Mann nicht länger, sondern brabbelte stattdessen mit Todesverachtung: „Anfänger.“
Alain blickte sich suchend um und fischte aus dem Gerümpel, das Rumpelstilzchen rund um seinen Lagerplatz verstreut hatte, eine zur Hälfte gefüllte Wasserflasche. Seine Hände zitterten, als er den Verschluss aufdrehte. Er rechnete mit dem Schlimmsten, verengte die Augen und roch argwöhnisch an der Flasche. Es war tatsächlich Wasser darin. Voll Dankbarkeit atmete er auf, zählte nach kurzem Zögern seine morgendliche Ration an Tabletten ab und schob sie in den Mund. Obwohl er kein Spieler war, wollte er das Risiko eingehen. Er bezweifelte, dass sich die Medikamente mit dem reichlichen Restalkohol in seinem Blut vertragen würden.
Was er allerdings ganz genau wusste: Der permanente Schmerz in seinem Herzen, den er Beate zu verdanken hatte, wütete nach wie vor mit unverminderter Stärke in ihm. Die Orgie der vergangenen Nacht hatte nicht die erhoffte Wirkung gehabt. Im Gegenteil, Beates Bild stand deutlicher als je zuvor vor seinem inneren Auge.
Er mühte sich vergeblich , seinen Arm ruhig zu halten, als er die Flasche an seine Lippen hob und sie mit einem langen Zug leerte. Dann ließ er sich vollkommen erschöpft von dieser Anstrengung zurück ins Gras sinken.
„Wo kommst e eigentlich her, mein Junge? Bevor ich heut’ Morgen unter dem dicken Baum dort drüben über dich gestolpert bin, hab ich dich noch nie hier gesehen.“
„Paris.“
„Mmmh, aus Paris kommt mein junger Freund also. Und du willst nicht über dein Problem reden?“
„Nein.“
„Du hast doch aber ein Problem. Sag schon, so ’n feiner Pinkel in teuren Lederklamotten und mit dicker Brieftasche muss ein gewaltiges Problem haben, wenn er es vorzieht, stockbesoffen im Park zu schlafen anstatt in seinem weichen Himmelbettchen in seinem goldenen Palast.“
Alain zuckte gleichmütig die Schultern. Er konnte sich an kein Prob lem erinnern. „Wie … wie spät?“
Rumpelstilzchen schob seinen speckigen Jackenärmel über das klapperdürre Handgelenk und blickte grinsend auf A lains Rolex. „Zwei Uhr nachmittags, Pariser Zeit nehme ich an.“
„Zwei Uhr“, sinnierte Alain ohne darauf einzugehen, dass er seine Armbanduhr vermisste. „Zwei … Uhr.“
„Ja, zwei Uhr!“, äffte der Alte ihn nach und hüpfte wie aufgezogen von einem Bein aufs ande re. „Was is’, haste heut’ noch was vor? Ein Rendezvous vielleicht
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