Toedliche Luegen
Widersprüche in seinem Wesen steigerten die Faszination, die er auf sie ausübte. Ein so betont maskuliner Mann durfte nicht in der Küche stehen! Wollte er etwa für einen normalen Menschen gehalten werden? Sie hasste es, wenn sich jemand weigerte, in bestimmte Schubladen zu passen. Dadurch wurde das Leben viel zu kompliziert.
Mit großem Appetit biss sie in ihr Croissant. Wenn sie sich in Zukunft weniger auf ihre eigenen Sorgen konzentrierte und noch seltener von Alain provozieren ließ, könnte sie den Spieß leicht umdrehen. Seine Selbstsicherheit war vor wenigen Minuten arg ins Wanken geraten und aus irgendeinem Grund hatte sie Mitleid für ihn verspürt. Was waren ihre so genannten Probleme schon im Gegensatz zu den seinen? Sie war kerngesund, sie hatte eine Familie und Freunde und bald auch eine Arbeit.
Sie blickte auf, um sich von ihm die Marmelade reichen zu lassen. Als sie seine glutvollen Augen auf sich gerichtet sah, hatte sie das Gefühl, sie sollte anstelle des Frühstücks verschlungen werden, und errötete. Wieder einmal! Das Lächeln um seinen Mund und in seinen Augen hätte mühelos die Arktis zum Schmelzen bringen können. Bei ihr zumindest hatte er sein zerstörerisches Werk längst begonnen, ohne es wahrscheinlich zu ahnen.
Doch auch Alains Herz wollte zerspringen bei dem träumerischen Blick, den sie ihm zurückgab. Er verspürte plötzlich den vollkommen verrückten Wunsch, aufzustehen und sie in seine Arme zu ziehen. Er wusste, sie würde sich nicht dagegen wehren, denn sie hatte keine Angst vor ihm. Wenn sie ihm bloß ein Stück entgegenkommen würde, ein einziges Wort und er wäre sofort bei ihr!
D enk an Eiskompressen. Eis! Kalt! Sie ist seine Tochter, verdammt, und für dich absolut tabu! Warum musste es ausgerechnet seine Tochter sein?!
„Wie viele von diesen gr ässlichen Dingern musst du eigentlich einnehmen?“ Mit dem Kopf deutete Beate auf den Berg Pillen.
Die Enttäuschung war Alain deutlich ins Gesicht geschrieben, weil sie ihn mit dieser Frage in die Wirklichkeit des rauen Alltags zurückholte. Er unterdrückte einen Seufzer. Bea, das war das falsche Stichwort, tadelte er sie in Gedanken. Ich habe gesehen, was dir wirklich auf der Seele brennt. Warum sprichst du es nicht aus?
Mit einem lustlosen Schulterzuck en tat er ihre Frage ab. „Anfangs waren es … zwanzig? Oder dreißig? Hätte ich nachgezählt, wäre ich wahrscheinlich ins Grübeln gekommen, also habe ich es besser sein lassen. Inzwischen bin ich bei zwölf angelangt.“
„Mann, oh, Mann! Das ist hart.“
„Ich bitte dich!“ Er wedelte ihre Worte beiseite. „Bloß kein Mitleid, liebe Nichte. Ist alles eine Frage der Gewöhnung.“
„Na sicher. Wahrscheinlic h genau wie meine Anwesenheit.“
Alains Backenknochen mahlten angestrengt. Sein Blick brannte sich in ihre grünen Augen. Sie hatte gewusst, ihre Provokation würde ihn treffen, und schlug sich in Gedanken auf die Schulter. Jetzt musste er Stellung beziehen.
„ Selbst das zähle ich nicht zu dem Schlimmsten, was mir in meinem bisherigen Leben widerfahren ist“, knurrte er missgelaunt.
„Es ist allerdings genauso wenig eine befriedigende Antwort auf meine Frage.“
„ Richtig.“
Sie gab ihm noch eine Minute in der Hoffnung, er würde weiterreden, doch er tat ihr nicht den Gefallen, sondern riss unbeeindruckt ein Stück von seinem Croissant ab, um es langsam zwischen die strahlend weißen Zähne zu schieben. Damit war das Thema für ihn erledigt.
Na schön, ganz wie du willst, gab sie großmütig nach, vorübergehend, und erkundigte sich laut: „Ich habe heute lediglich zwei Führungen. Wenn du möchtest …“ Sie hüstelte verlegen und kam sich ziemlich selbstmörderisch vor. „Würdest du mit mir essen? Äh, ich meine, wenn ich am Abend für uns koche? Weil doch Juliette noch bei ihren Eltern ist und … ja … deswegen eben.“
„Warum nicht?“
„Diese Frage sollte ich dir besser erst nach dem Essen beantworten.“ Sie schmunzelte und vergewisserte sich: „Also, ja?“
„Selbstverständlich ja.“
„Gut. Und übrigens meinen besten Dank für das Frühstück. Es schmeckt vorzüglich.“
„ Vorzüglich? Croissants vom Bäcker um die Ecke und Eier in der Pfanne verrührt. Mit einem Mal so genügsam?“
„Sogar der Kaffee ist ausgesprochen köstlich“, lobte sie mit nicht nachlassender Freundlichkeit. Nein, sie wollte sich nicht provozieren lassen. Nicht heute. Bitte, Alain, mach es mir nicht dermaßen schwer! Ich will bloß
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