Tödliche Märchen
Sukos Richtung. Mrs. Finley hatte nicht qualmen wollen. Sie war vernünftig.
»Haben Sie schon einen Vorschlag, wie es weitergehen sollte?« erkundigte sich die Kollegin.
»Ich dachte daran, daß man sich mal mit ihr in Verbindung setzt. Möglicherweise ist sie nur benutzt oder nachgemacht worden. Ihr Sohn hat davon gesprochen, daß die Frau ihn zum Friedhof gelockt hat. Das hätten ja viele Zeugen sehen und hören müssen.«
Sie winkte ab. »Irrtum, John, Sie vergessen die Kassette, von der ich gesprochen habe.«
»Stimmt.«
Ruth deutete auf ihre Tasche. »Ich habe sie übrigens mitgebracht. Wir sollten sie uns gemeinsam anschauen.«
»Kennen Sie die Kassette noch nicht?«
»Nein, ich wollte warten.«
»Dann machen wir das doch.« Ich stand auf und öffnete der Kollegin die Tür.
Glenda drehte sich überrascht um. »Schon fertig, Mrs. Finley?« fragte sie.
Ich drückte meine Zigarette im Ascher des Vorzimmers aus. »Nein, es geht erst rund. Wir sind im Vorführraum und schauen uns eine Videokassette an.«
»Okay.«
Der Raum lag unter der Erde, praktisch zwischen der EDV und der Obduktion. Wir rauschten mit dem Lift nach unten. Ruth berichtete mir, wie schwer es für eine berufstätige Frau ist, sich mit einem Kind durchzuschlagen. Neben dem Beruf durfte sie ja auch die Erziehung des Jungen nicht vernachlässigen.
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Sie sind nicht verheiratet, Mr. Sinclair?«
Ich hielt ihr die Tür auf. »Nein. Mit mir verheiratet zu sein, kann ich keiner Frau zumuten.«
Über die Schulter hinweg warf sie mir einen Blick zu. »Da sind Sie nicht der erste Polizist, der so etwas sagt.«
»Man sollte da eine gewisse Verantwortung zeigen.«
Wenig später blieb ich vor der hellgebeizten Tür des Filmraums stehen. Wir traten ein, schauten auf die Stuhlreihen und sahen auch den großen Standapparat mit dem gewaltigen Bildschirm, der einer kleinen Kinoleinwand glich. Ich legte die Kassette in den Recorder, schaltete ihn ein und löschte das Licht bis auf die Notbeleuchtung.
Zunächst einmal sahen wir nichts. Ein Flimmern auf dem Schirm, das von einer tiefen Finsternis abgelöst wurde. Ruth Finley saß neben mir und schüttelte den Kopf. »Will man uns da zum Narren halten? Ich sehe nur schwarz.«
»Abwarten.«
Die Schwärze blieb, aber sie teilte sich. Es war ein Vorhang, der in zwei Hälften aufgeschlagen wurde. Ein Bild erschien. Erst noch weit, dann rückte es näher, und wir erkannten einen hohen Sessel, in dem die Omas gern sitzen, wenn sie den Kindern Märchen vorlesen. Dann erschien Grandma Gardener.
Sie trat aus der Dunkelheit hinter dem Sessel. Eine ältere grauhaarige Frau, die mich sogar ein wenig an Lady Sarah, die Horror-Oma, erinnerte. Ein dunkelrotes Kleid hatte sie angezogen. Unter dem rechten Arm klemmte ein Buch mit schwarzem Einband.
Sie lächelte in die Kamera, nickte, nahm im Sessel Platz, legte das Buch auf ihre Knie und schlug es auf.
Die Kamera holte ihr Gesicht näher heran. Es wirkte ein wenig grau, wie mit Zement gepudert. Sie hielt das Buch mit beiden Händen fest, hob es jetzt an, so daß wir auch ihre Finger erkennen konnten. Sie waren dünn, lang und auch knochig. Auch die Nägel besaßen eine überdurchschnittliche Länge.
Der Blickwinkel wurde besser, weil die Kamera sie jetzt von der Seite her aufnahm, so daß wir als Zuschauer die Frau und auch das Buch erkennen konnten.
Dann begann sie zu lesen.
Wir hörten ihre Stimme, und ich spürte Ruths Hand auf meinem Knie.
»Die spricht fast wie ein Mann.«
In der Tat besaß sie eine Stimme, die der eines Mannes gleichkam. So redete sie nicht, wenn sie auf dem Bildschirm zu sehen war. Und auch das Märchen, das sie sich ausgesucht hatte, war etwas Besonderes, denn es war grausam und gefährlich.
Sie sprach vom Land der ewigen Dunkelheit, das nur erhellt wurde, wenn sein Herrscher es durchflog. Und der Herrscher war kein geringerer als der Teufel, auch Asmodis genannt.
Ich hörte gespannt hin.
Die Geschichte war schrecklich. Der Teufel blieb die Hauptperson, und die anderen Personen, die er jagte, waren Kinder. Er wollte sie packen, um sie zu töten.
Ein Name fiel.
Jason Finley. Grandma Gardener sprach ihn direkt an und redete auch von seinem toten Vater. Sie lud ihn tatsächlich ein, in der Nacht an sein Grab zu kommen.
Ruth saß verkrampft neben mir. »Das gibt es doch nicht.«
»Warten Sie ab.«
»Ja«, hörten wir die Stimme aus dem Lautsprecher. »Du wirst kommen und mit deinem Vater reden
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