Tödliche Märchen
können. Denk an die Zeit. Um Mitternacht an seinem Grab…«
Grandma Gardener stand auf. Das Buch fiel ihr fast aus den Händen. Sie drückte ihr Gesicht auf die Kamera zu, so daß wir deutlich den grünen Schimmer auf der Haut sahen, aber eine Knochenfratze wurde daraus nicht.
Etwas anderes geschah.
Am Recorder fuhr die obere Klappe hoch. Ein Blitz jagte gegen die Decke, Feuer folgte, Funken sprühten, etwas knackte, und ein beißender Gestank breitete sich aus.
Ich war aufgesprungen, schaltete das Licht ein und ging auf den Recorder zu.
Ein verschmortes Etwas stand auf dem Tisch. Mehr nicht. Von der Kassette war bestimmt nichts mehr übriggeblieben.
Auch Ruth Finley hatte nichts mehr auf ihrem Stuhl gehalten. Sie kam langsam näher und schüttelte den Kopf. »Das ist doch ein Unding. Wie kann die Kassette ohne äußere Einflüsse zerstört werden? Können Sie mir das sagen, John?«
»Ich wüßte schon eine Lösung.«
»Und welche?«
»Magie«, erwiderte ich, »schwarze Magie. Etwas anderes kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
Ruth starrte mir ins Gesicht. »Vor zwei Tagen«, so flüsterte sie, »hätte ich Sie noch für verrückt gehalten. Jetzt aber nicht mehr, und ich glaube meinem Sohn alles.«
Ich hob die Schultern. »Es wäre natürlich für uns interessant gewesen, alles zu sehen, aber dem hat man rechtzeitig genug einen Riegel vorgeschoben.«
»Weshalb?«
»Wenn wir das wüßten, Ruth, ging es uns viel besser.«
Sie schaute auf die Uhr. »Wollten Sie nicht mit Grandma Gardener persönlich reden?«
»Ja.«
»Heute hat sie wieder ihre Märchenstunde. Wir werden sie bestimmt im Studio treffen.«
»Wann beginnt die Sendung denn?«
»Um fünfzehn Uhr, glaube ich.«
»Das schaffen wir leicht. Außerdem wird sie sich bestimmt früher dort einfinden.«
»Trotzdem würde ich mich an Ihrer Stelle noch vergewissern John. Es kann sein, daß die Sendung als Aufzeichnung läuft. Dann sind wir die Angeschmierten.«
»Gute Idee.«
Wir fuhren wieder hoch zum Büro und telefonierten von dort. Glenda sah mir an, daß etwas passiert war, stellte aber keine weiteren Fragen. Es dauerte, bis ich einen der verantwortlichen Redakteure an die Strippe bekam. Der aß wohl gerade und sprach mit vollem Mund, so jedenfalls hörte sich seine Stimme an.
Ich trug ihm mein Problem vor.
»Da haben Sie Pech gehabt, Mr. Sinclair. Die Sendung läuft heute und in den nächsten vier Wochen als Aufzeichnung. Die Gardener wollte es so haben.«
»Hat sie einen Grund genannt?«
»Nein. War wohl eine persönliche Sache.«
»Können Sie mir Ihre Adresse geben?«
Er schwieg, um nach einer Weile mit veränderter Stimme zu erklären.
»Ich weiß nicht, ob ich dazu berechtigt bin.«
»Der Polizei immer.«
»Sie wohnt in Soho. Angeblich hat sie dort nur ein Zimmer, in das sie sich verkriecht und nach neuen Märchen sucht. Ich weiß auch nicht, ob es stimmt.«
»Die genaue Adresse bitte.«
Ich bekam sie und schrieb sie auf. Ruth schaute mir dabei über die Schulter und nickte. Als ich aufgelegt hatte, sagte sie: »Die Straße kenne ich. Wir brauchen gar nicht mal weit zu fahren.«
Ich sagte Glenda noch Bescheid, wohin wir unterwegs waren. »Soll ich Sir James informieren?«
»Kannst du meinetwegen.«
Noch sah ich die Sache ziemlich locker. Aber das sollte sich bald ändern.
Und zwar auf verdammt schaurige Art und Weise…
In der Schule hatten sie den Spitznamen die Unzertrennlichen bekommen. Drei Jungen und ein Mädchen.
Jason Finley, Tiggy Blaine, Ernie Grey und Nicole Winter. Auch in der Schule saßen sie dicht beieinander.
Jason Finley war wie immer an einem normalen Werktag zur Schule gegangen. Da sein Fahrrad repariert werden mußte, ging er zu Fuß und wurde auf dem Weg von Nicole Winter abgefangen. Sie stand an einer Einfahrt und trat vor, als Jason auf gleicher Höhe war.
»Hi.«
Jason ging weiter.
Nicole ärgerte sich. Sie trug eine rote Windjacke mit Kapuze. Die Schulbücher steckten in einem grünen Rucksack, der noch mit Aufklebern bedeckt war. Sie hatte das lange blonde Haar im Nacken zusammengelegt und zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Mensch, warte doch, Jason.«
»Du kannst ja schneller laufen.«
Sie hielt Schritt. »Bist du sauer?«
»Nein.«
»Was denn?«
»Alles klar.«
»Gut, bei mir auch.« Das Mädchen atmete schneller. »Ich habe meinen Eltern gesagt, daß ich erst gegen Abend komme. Ich bin eben bei einer Freundin.« Das Mädchen faßte Jason an den Ellbogen. »Sag mal, hast du schon was
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