Tödliche Mitgift
Galgenhumor deklamiert. Er sah nicht mehr aus wie Bernhard Löwgen, sondern wie ein verwahrloster Penner mit Rucksack und Ringen unter den Augen. Umso besser, denn er wollte ja weder erkannt noch gefunden werden.
Hinter einem Mehrfamilienhaus entdeckte er einen offenen Schuppen, in dem er sich vielleicht für ein paar Stunden verkriechen konnte? Weiter ins Stadtzentrum zu gehen oder in einem der Parks zu übernachten, traute er sich nicht. Von einem Kinderspielplatz war er schon verscheucht worden, aber inzwischen war er so müde, dass auch seine Medikamente den dringend notwendigen Schlaf nicht mehr lange hinauszögern konnten. Er grinste freudlos, als er an die ihm von seinen Ärzten empfohlene Schlafhygiene dachte. Regelmäßig sollte er schlafen, nachts mindestens von zehn bis sieben und mit drei zwanzigminütigen Schlafpausen am Tag. Heute hatte er tagsüber nur zwei kurze Schlafpausen auf einer Bank an einem kleinen Brunnen eingelegt. Lange würde er so nicht mehr durchhalten.
Er wartete ab, bis ein einsamer, eine abendliche Zigarette rauchender Fußgänger vorbeigegangen war, und tastete sich dann vor in den Hinterhof. Ohne Straßenbeleuchtung und das Licht der Reklametafeln war es hier vollkommen finster. Er konnte gerade noch erkennen, dass der Schuppen ein aus alten Holzbrettern und Wellblech zusammengeschusterter Verschlag war. Wahrscheinlich wurde er zum Unterstellen von Fahrrädern oder Gartengeräten genutzt. Vielleicht stand dort auch eine alte Gartenliege, aber er würde sich auch auf den nackten Boden legen … Die Füße taten ihm so weh, als liefe er auf den bloß liegenden Fußknochen herum. Er hörte ein leises Klirren, das ihn irritierte. Ein tiefes Grollen folgte, das klang wie ein fernes Gewitter. Bevor er wusste, was er da vernommen hatte, und darauf reagieren konnte, sprang aus der Finsternis des Schuppens etwas auf ihn zu. Löwgen taumelte erschrocken zurück. Lautes Gebell machte ihm unmissverständlich klar, dass er einen Hund aufgescheucht hatte, der sich in die Kette warf, mit der er Gott sei Dank angebunden war. Bernhard Löwgen stolperte rückwärts und fiel; er zog entsetzt die Füße an, weil er meinte, den feuchten, unangenehmen Atem des Hundes an seinem Bein zu spüren. Er kroch auf dem Hosenboden rückwärts, bis er sich außerhalb des Gefahrenbereichs wähnte. Im Haus flammte ein Scheinwerfer auf, das Anschlagen des Hundes hatte offenbar die Bewohner alarmiert. Er blinzelte wie ein vom Licht gebanntes Tier, rappelte sich hoch und lief zurück auf die Straße.
Den Laufschritt hielt er nicht lange durch. Er war noch nie ein guter Sportler gewesen, und die letzten Tage auf der Straße hatten ihn zusätzlich geschwächt. Nach Luft japsend, hielt er an einer Bushaltestelle an und ließ sich auf einen der Plastiksitze fallen, die man in dem Häuschen für wartende Fahrgäste installiert hatte. Ein paar Minuten nur sitzen, bevor er weitergehen musste … Er war unbeschreiblich müde. Wer mich hier sitzen sieht, denkt bestimmt, ich hätte nur den letzten Bus verpasst., sagte sich Löwgen. Er nahm seinen Rucksack ab, stellte ihn zwischen seine Knie, lehnte sich an die gläserne Rückwand des Häuschens und schloss die Augen. Seine Lider schienen sich sofort auf seinen brennenden Augäpfeln festzusaugen, und er driftete ab in einen unruhigen Schlaf.
Dann, eine kurze Weile später, wusste er noch im Traum, dass er nicht mehr allein war. Er spürte, wie etwas seine Hand berührte, schloss die Finger um den Riemen des Rucksacks und presste die Knie zusammen. Bernhard Löwgen spürte Gefahr, doch so sehr er es auch versuchte, er wurde nicht richtig wach. Vielleicht erweckte er ja den Anschein, betrunken zu sein, und man ließ ihn in Ruhe?
Löwgen blinzelte mühsam, als jemand an seiner Schulter rüttelte. »Hey«, protestierte er und versuchte, sich aufzurichten, wurde jedoch mit einem Knuff auf den harten Sitz zurückgestoßen. Das machte ihn etwas wacher, und er sah, dass ihm drei Jugendliche gegenüberstanden. Ihre schlanken Silhouetten ließen jeden Gedanken an Flucht unsinnig erscheinen. Sie sahen drahtig und fit aus, sie waren zu dritt – und er allein. Er hörte, wie sie in schnellem, derb klingenden Italienisch miteinander sprachen. Einer von ihnen beugte sich zu ihm hinunter, sodass er kalten Zigarettenrauch und Haarpomade riechen konnte, und redete auf ihn ein. Der linke Schneidezahn des jungen Mannes war braun verfärbt. Löwgen war zu benommen; er reagierte nicht schnell
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