Tödliche Mitgift
Fünf-Sterne-Hotel aufzuklären, einen untergetauchten, deutschen Tatverdächtigen aufzuspüren und noch immer keine aussichtsreiche Spur, kein Motiv. Das waren Tatsachen, die Pia dazu brachten, dem Commissario Capo sogar seine genervten Blicke in ihre Richtung und seine Ungeduld bei den Übersetzungen zu verzeihen. Irgendwo im hierarchischen »Oben«, wo immer das im italienischen Polizeisystem auch sein mochte, saß jemand, der schon sehr bald konkrete Ergebnisse von ihm einfordern würde.
Bernhard Löwgen bestellte sich seinen dritten Espresso in Folge, auch wenn ihn das fast den Rest seines Barvermögens kostete. Die Kellnerin in dem hautengen Stretch-Oberteil sah ihn misstrauisch an. Ihre schwarzen Balkenaugenbrauen hoben sich bei seiner Bestellung, bis sie unter dem kastanienroten Pony verschwanden. Die italienische Tageszeitung, die er gekauft hatte, mochte als Deckung vor neugierigen Blicken von draußen genügen, aber in der Bar hatten sie natürlich längst herausgefunden, dass er gar nicht Italienisch sprach. Das hörten sie schon, wenn er nur »Un espresso, per favore« und »grazie« stammelte. Aber eine deutsche Zeitung war auch nicht angeraten gewesen. Er hätte ein englisches Blatt nehmen sollen … Darauf hätte er auch gleich kommen können, aber sein Konzentrationsvermögen hatte unter der ständigen Anspannung ziemlich gelitten. Er war unfassbar müde. Die Medikamente gegen seine Narkolepsie gingen zur Neige, er hatte nur noch drei Modafinil am Tag zur Verfügung, zu Hause nahm er an schlechten Tagen bis zu acht Stück … Und er wusste nicht, wo er hier unbehelligt schlafen sollte.
Vorhin, auf dem Klo am Busbahnhof, hatte sein Gesicht im Spiegel fahl und sein nun kurz geschorenes, gefärbtes Haar an den Ansätzen grau ausgesehen. Wahrscheinlich war er in ein paar Tagen weiß. Über dieses Phänomen hatte er schon gelesen: dass man durch starken Stress die Pigmente im Haar verlor. Die Männer wurden angeblich heutzutage sowieso schneller grau als noch vor zwanzig Jahren. Der Stress war’s – er war sich schon lange sicher, dass Frauen es heutzutage viel besser hatten. Aber wehe, er wagte es, das einer von ihnen gegenüber auch nur anzudeuten …
Bernhard Löwgen rückte die billige Sonnenbrille mit den gelben Gläsern zurecht, die er vorgestern einem Straßenhändler abgekauft hatte, und warf einen prüfenden Blick durch die verschmierte Fensterscheibe auf die Straße. Wenn ihn nicht alles täuschte, waren wieder mehr Bullen unterwegs. In Uniform und auch in Zivil. Bisher hatte ihn hier aber niemand eines Blickes gewürdigt. Die kleine Bar, die er sich ausgesucht hatte, befand sich gerade in richtiger Entfernung zur Questura. Nicht so dicht, dass es auffällig gewesen wäre, jedoch dicht genug, um zu sehen, wer sich in die Richtung bewegte oder von dort zurückkam.
Sein Kopf fiel nach vorn auf seine Brust. Er zuckte zusammen, riss die Augen auf und stürzte den vor ihm abgestellten, frischen Espresso heiß, wie er war, herunter. Prompt verbrühte er sich den Gaumen, doch das Koffein, das in seine Blutbahn gelangte, entschädigte ihn dafür. Nachdem er den ersten Schock über Annegrets Tod verwunden hatte, kämpften Angst und Wut um die Vorherrschaft in Bernhards Gefühlsleben. In diesem Spiel gewinnt der klügste Kopf, hatte er sich in der letzten Nacht versichert, in der er aus Angst davor, erneut überfallen oder zusammengeschlagen zu werden, immer wieder hochgeschreckt war. Es liefen zu viele Verrückte herum. Am meisten graute ihm vor der Vorstellung, im Schlaf mit Benzin Übergossen und angezündet zu werden. Es gab Menschen, die Obdachlosen so etwas antaten … Der Gedanke, dass sein Überleben von seinen geistigen Fähigkeiten abhing, dass sein Verhalten Einfluss auf sein Schicksal hatte, war da irgendwie tröstlich. Bisher hatte er doch die richtigen Züge gemacht, oder etwa nicht? Und irgendwann würde etwas auftauchen, das sich für ihn als nützlich erweisen könnte. Er musste nur warten können – und dann entschlossen zuschlagen. Der Dauerstress der letzten Tage hatte ihn verändert, dachte er. Wohin würde ihn das alles noch führen?
Pia stand an die Brüstung der Giardini Carducci gelehnt und blickte hinunter auf die Stadt und die sich dahinter ausdehnende Ebene. Vittoria Sponza war mit ihr durch ein unterirdisches Labyrinth, an historischen Mauerresten vorbei, mit der Scala mobile in die Altstadt auf der Kuppe des Berges gefahren. Von hier oben hatte man einen fantastischen
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