Tödliche Mitgift
Ausblick. Links neben ihnen erhob sich die ockergelbe Fassade des Guarini Palace Hotels – ein paar Gäste tummelten sich in den ausladenden Korbmöbeln unter Sonnenschirmen vor dem rot überdachten Eingang.
»Dort entlang geht es den Corso Vanucci hinunter.« Die Commissaria deutete hinter sich, in Richtung Stadtzentrum. »Das ist Perugias berüchtigte Flaniermeile …«
»Ich hoffe, ich bleibe lange genug, um die Stadt ein wenig kennenzulernen«, sagte Pia.
»Ich gehe davon aus«, antwortete Vittoria Sponza. »Wir stehen mit unseren Ermittlungen noch immer am Anfang. Und ich persönlich glaube, dass die Wurzeln des Verbrechens in Lübeck liegen. Verzeihen Sie – nicht, dass es hier nicht auch Mord- und Totschlag geben würde. Aber hinter dem Mord an der jungen Frau muss etwas anderes stecken, das weiter zurückliegt. Ich werde den Eindruck nicht los, dass der Mord nur zufällig hier in Perugia passiert ist.«
»Wir wissen immer noch nicht, warum Annegret Dreyling überhaupt hierhergekommen ist«, bemerkte Pia. »Ich kann nachvollziehen, dass es ein wundervoller Ort für einen Tapetenwechsel ist. Ebenso kann ich nachvollziehen, dass Annegret Dreyling einen Tapetenwechsel brauchte, nachdem ihr frisch angetrauter Ehemann nach Südamerika verschwunden ist. Aber warum war sie mit diesem Löwgen unterwegs, und warum ausgerechnet Perugia?«
»Wegen ihres Bruders?«
»Ja und nein. Sie hatte gerade in eine sehr wohlhabende Familie eingeheiratet. Ihr Bruder hingegen ist vor Kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden, und mit ihrer Schwägerin scheint sie sich auch nicht besonders gut verstanden zu haben … Ich kann mir schon aus diesen zwei Gründen bessere Ferienorte für Annegret Dreyling vorstellen …«
»Wir bieten hier eine Menge für ausländische Studenten. Perugia ist bekannt für seine hervorragende Ausländer-Universität. Vielleicht hatte sie vor, hier zu studieren …«
»Ich glaube nicht, dass Annegret Dreyling hierherkam, um zu studieren. Dazu fehlte ihr der nötige Schulabschluss. Aber ein Sprachkurs wäre tatsächlich möglich.«
»Ich werde bei allen Instituten, die Sprachkurse anbieten, nachfragen lassen«, sagte die italienische Kommissarin. »Sie haben doch sehr gute Fotos von der lebenden Annegret Dreyling mitgebracht. Die können unsere Leute verwenden.«
»Sie könnte dort jemanden kennengelernt und sich ihm oder ihr anvertraut haben?«, überlegte Pia laut.
»Ich werde versuchen, das herauszufinden«, versprach die Commissaria. »Viel Erfolg im Guarini. Ich habe Ihr Kommen angekündigt. Fragen Sie nach dem Geschäftsführer. Wir sehen uns später in der Questura …«
Pia schaute ihr nach, bis sie im Schatten der Arkaden des gegenüberliegenden Gebäudes verschwunden war. Dann blickte sie an der Fassade des Guarini empor. Annegret Dreyling hatte dort oben gewohnt, im Zimmer eines Luxushotels mit einem fantastischen Ausblick. Doch was sie in Italien gefunden hatte, war der Tod – oder hatte der Tod sie gefunden?
16. Kapitel
D as Hotel Guarini besteht aus zwei Gebäuden, einem älteren und einem neueren, die durch einen Übergang über die Straße miteinander verbunden sind«, erklärte der Geschäftsführer des Hotels auf Englisch, als er Pia im Fahrstuhl nach oben begleitete. »Je nach Auslastung der Kapazitäten werden entweder beide oder aber nur eines unserer Häuser genutzt. Annegret Dreylings Zimmer hat sich hier, im älteren Haus, befunden.«
Commissaria Sponza hatte gute Vorarbeit geleistet. An der Rezeption war man äußerst hilfsbereit gewesen; der Geschäftsführer war sofort über ihre Ankunft informiert worden. Er hatte sich auch bereit erklärt, der Kommissarin aus Deutschland noch einmal den Tatort zu zeigen. Vor dem Hotelzimmer angekommen, zog er eine Chipkarte hervor und öffnete damit die doppelte, aufwendig gegen Schall isolierte Tür.
Im ersten Moment wirkte alles normal: Pias Füße versanken in dicker, dunkelblauer Auslegeware; die mit Seidentapete bespannten Wände hatten eine goldgelbe Farbe; der großformatige Spiegel und die Ölgemälde an den Wänden strahlten gediegenen Charme aus. Bei genauerem Hinsehen sah sie an Türklinken, Lichtschaltern und anderen Oberflächen noch die Spuren des rußigen Pulvers, mit dem Fingerabdrücke sichergestellt worden waren. Hinter dem kurzen Flur, von dem die Tür zum Badezimmer abging, lag das Schlafzimmer. Pias Blick fiel auf das abgezogene, nackt aussehende Doppelbett und die zwei dunklen, etwa einen halben
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