Tödliche Nähe
abgeschlossen. Als Großstadtmädchen hakte sie sicher nicht nur die Kette ein, sondern schob auch den Riegel vor.
Zwar würde ihn das nicht wirklich aufhalten, aber er konnte schließlich nicht einfach so unverfroren bei ihr einbrechen, oder?
Nach wie vor musste er herausfinden, weshalb sie hier war.
Das kleine Hotel bot nicht besonders viel Komfort, aber Nia brauchte auch keinen Luxus. Das Apartment war ruhig und sauber. Das genügte.
Die Fenster lagen zur Rückseite, und der Wald hinter dem Haus bot zusätzlichen Schutz vor der gleißenden Sommersonne. Als sie die Vorhänge vorzog, wurde es so dunkel im Zimmer, dass sie kaum noch etwas erkennen konnte. Doch sie brauchte auch nichts zu sehen – noch auf dem Weg zum Bett riss sie sich die Kleider vom Leib, ließ sie zu Boden fallen und hielt lediglich inne, um die Decke zurückzuschlagen.
Sie brauchte dringend Schlaf. Dann würde sie sich ihr weiteres Vorgehen überlegen.
Einen Plan schmieden …
Schlafen …
Albträume suchten sie heim, bereiteten ihr unerträgliche Seelenqualen.
In ihrem Traum war sie nicht sie selbst, sondern Joely. Sie rannte – außer Atem und völlig verängstigt – durch den Wald, ohne zu wissen, wohin, allein in der Gewissheit, dass sie fortmusste.
Und er war ihr auf den Fersen.
Namenlos.
Gesichtslos.
Ein bösartiges, dunkles Wesen, das sie beobachtete, abwartete …
Sie spürte seinen Blick über ihren Körper wandern, sie förmlich abtasten.
Er wartete … mit einer Engelsgeduld …
Sie wollte schreien, wagte es aber nicht. Also blieb sie stumm, biss sich heftig auf die Lippe, damit ihr kein Laut entwich. Wenn sie schrie, hätte er es umso leichter, sie zu finden.
Doch er würde sie ohnehin aufspüren.
Es war nur eine Frage der Zeit – egal, wohin sie rannte, in welche Richtung sie floh, sie konnte ihm nicht entkommen. Das hier war seine Stadt …
Als sie erwachte, herrschte um sie herum völlige Dunkelheit.
Mit einem unterdrückten Schluchzen kämpfte Nia sich aus den Laken frei, die sie wie Fesseln umhüllten. Nackt und zitternd kletterte sie aus dem Bett, schlang sich die Arme um den Oberkörper.
Beruhige dich … Du musst dich zusammenreißen!
Wieder und wieder lief der Traum wie ein Film in ihrem Kopf ab. Sie sah sich selbst – doch sie war es nicht, sondern Joely. Sie rannte, versuchte zu entkommen.
Das allein war noch nicht sonderlich erschreckend.
Joely war zwar nie so angriffslustig gewesen wie Nia, doch sie hätte nicht klein beigegeben, wenn man sie bedrohte – sie hätte sich gewehrt. Mit aller Kraft.
Was Nia jedoch beunruhigte, waren diese seltsamen Erinnerungen, die ihr wie ihre eigenen vorkamen.
Das hier war seine Stadt …
Sie stieß einen Seufzer aus, hob ihr Oberteil vom Fußboden auf und zog es sich über. Sie scherte sich einen Dreck um die offiziellen Protokolle, und auch diese sogenannten Beweise, die sie bei Joe Carsons Leiche gefunden hatten, kümmerten sie einen feuchten Kehricht.
Nia glaubte das alles nicht. Der Mörder kam von hier.
Tief in ihrem Inneren wusste sie das.
Was allerdings bedeutete, dass der Mörder nicht Joe Carson war … sondern immer noch frei herumlief. Irgendwo. Sie erschauderte und rieb sich den Hals. Ihr sträubten sich die Nackenhaare, und sie bekam das Gefühl, jemand würde sie beobachten. Ganz geduldig.
»Du leidest unter Verfolgungswahn«, murmelte sie zu sich selbst, überprüfte aber trotzdem das Türschloss und die Vorhänge. Die Gardinen hatte sie keinen Spalt offen gelassen, die Tür sicher versperrt, und der Riegel war vorgeschoben. Niemand konnte sie hier beobachten, außer er hatte eine Kamera installiert, und darüber sollte sie gar nicht erst nachdenken , nervös wie sie war.
Sie schaute auf die Uhr und fragte sich, ob man in der Gegend um diese Zeit wohl noch etwas zu Essen bekommen konnte. Es war Montagabend, kurz nach halb neun. Hatte noch irgendetwas offen ?
Ihr grummelte der Magen.
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Gelassen schlenderte sie durch die Eingangstür von Mac’s Grill , und falls ihr auffiel, dass jeder Einzelne hier drin sie anstarrte, ließ sie sich nichts anmerken. Höchstwahrscheinlich war es ihr jedoch bewusst. Vermutlich hatte sie auch ihn bemerkt, wie er in seiner Nische saß und an einem Chickenwing knabberte. Einer wie ihr entging nichts.
Einerseits ging ihm ihre ständige Wachsamkeit tierisch auf den Zeiger, andererseits erregte sie ihn auch irgendwie.
Sie würde kämpfen, genau wie ihre Cousine.
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