Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
Rechtsanwälten befragen lassen dürfen.
Mit einem plötzlichen Gefühl von Ekel dämmerte ihr, dass ihre Gedanken und Vorstellungen sie mit einer schrecklichen Realität konfrontiert hatten. Es war ein Schock, als sie nun in aller Konsequenz erkannte, dass Ted ein Mörder war; dass er Gefahr lief, verhaftet und gehängt zu werden; dass Derrick und Anne vielleicht mit dem Schandmal, die Kinder eines Mörders zu sein, durchs Leben gehen müssten. Es war einfach zu furchtbar, zu abstrus, zu scheußlich, um wahr zu sein. Ihr Geist weigerte sich, diesen Gedanken noch länger zu ertragen. Sie konnte sich dem nicht stellen; ihr Geistscheute davor zurück wie ein widerspenstiges Pferd vor einer Hürde. Mit einem Mal spürte sie, wie ihr das Herz in der Brust raste, und sie wusste, dass ihre Gesichtsfarbe sich verändert hatte. Sie sah ihre Mutter über den Tisch hinweg an, doch ihre Mutter saß so gelassen und reglos da wie zuvor.
»Geht es dir nicht gut, Liebes?«, fragte ihre Mutter sanft.
»Doch, danke«, erwiderte Marjorie, um Atem ringend.
Auf der Suche nach irgendeinem Fluchtweg aus der Realität heraus blieb ihr Blick an der Uhr auf dem Kaminsims hängen.
»Es ist Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte sie. »Derrick muss schon bald ins Bett.«
Es war wie die Erlösung von den ungeheuren Schmerzen der Geburt, als sie sich erlaubte, das schreckliche Grauen, das vor ihr aufgestanden war, zu verdrängen und sich wieder den kleinen Dingen des Alltags zuzuwenden. Derrick dazu zu überreden, die Murmeln alle wieder ordentlich in den Beutel hineinzutun; Anne den Hut im richtigen Winkel auf den Kopf zu setzen, die üblichen Straßen entlang nach Hause zu gehen und darüber nachzudenken, was sie Ted zum Abendessen kochen sollte; all das war ein Segen, ein weiches Bett nach einem mit Kieselsteinen gefüllten Sofa. Vor einer Stunde noch waren die härtesten Realitäten, mit denen sie konfrontiert war, Teds Lästigkeit und Derricks Hang zum Lügen gewesen. Jetzt konnte sie nicht mehr begreifen, wie sie sich darüber je hatte Sorgen machen können; doch sie klammerte sich an sie, spielte in Gedanken mit ihnen, würde sie nicht wieder loslassen, damit nur die anderen Dinge sich nicht noch mal in ihre Gedanken hineinschlichen.
Es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass sie da etwas tat, was eine mitleidlose Welt mit Skepsis betrachten könnte: dieses ruhige Zurückkehren nach Hause zu einem Ehemann,den sie eben erst als einen Ehebrecher und als den Mörder ihrer Schwester entlarvt hatte. In ihr herrschte der Gedanke vor, dass sie zurück nach Hause ging, zurück zu den Dingen des Alltags, zumindest für eine Weile. In diesem Augenblick gab es eine entschiedene Trennung zwischen dem Ted, mit dem sie zehn Jahre lang zusammengelebt hatte, dem Ted, der einen Hang zur Lästigkeit zeigte, dem Ted, für den sie ein Abendessen kochen würde – zwischen ihm und dem Ted, dessen Schuld sich ihr vor Kurzem offenbart hatte. Es musste zwangsläufig erst einmal einige Zeit vergehen, bevor diese beiden Gestalten wieder miteinander verschmelzen würden.
Ein Puritaner oder ein Moralist könnte einwenden, dass Marjorie keinen Grund gehabt hätte, an diesem Nachmittag zu Ted zurückzukehren, dass sie sich von ihm hätte trennen sollen, drastisch, unverzüglich, und dass sie ihn niemals wieder eines Blickes hätte würdigen dürfen. Eine solche Argumentation lässt jedoch den menschlichen Faktor außer Acht; es wäre Marjorie ganz unmöglich gewesen, das zu tun, so ungeübt, wie sie darin war, rasche Entscheidungen über Angelegenheiten von größter Tragweite zu treffen, und so untauglich, wie sie von der Natur ausgestattet worden war, mit Krisen umzugehen. Vielleicht – gewiss – war es schwach von ihr, und die Schwäche war von der Art, die zur Tragödie führt, aber es war eine Schwäche, die keiner Rechtfertigung und keiner kleingeistigen Erklärung bedarf. Und man muss auch nicht das nächste Argument strapazieren, das Marjorie selbst eigentlich erst einige Zeit später in den Sinn kam, dass nämlich die Trennung von Ted bedeuten würde, den Klatsch erst loszutreten, den Verdacht auf ihn zu lenken und sie alle zusammen mit ihm in den Ruin zu stürzen.
5
An diesem warmen Abend schob Sergeant Hale sein Fahrrad die Anhöhe der Simon Street hinauf, als er Mrs Clair traf, die sie eben hinunterging – oder vielmehr überquerte Mrs Clair kurz vor der Begegnung die Straße, sodass sie beide auf derselben Straßenseite liefen und sich gar nicht
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