Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
aus, und bei jedem neuen Halt blickten die Frauen sich um aus Angst, dass ein Polizist eingestiegen sein könnte. Mrs Clair zitterte vor Angst; doch es war nicht die Angst vor den Konsequenzen, die ihre Tat nach sich ziehen würde, sondern die blinde, panische Angst der Verfolgten, jetzt, da der entscheidende Augenblick vorüber war. Sie fühlte sich kraftlos und fror. Ihr war bewusst, dass ihr Gesicht bleich war und ihre Hände zitterten. Dann bemerkte sie, dassMarjorie neben ihr vor Schluchzen bebte. Das würde Aufmerksamkeit auf sie lenken. Die Leute würden sich leicht an eine junge Frau erinnern, die ohne Hut und ohne Jackett an einem regnerischen Abend schluchzend in einem Autobus gesessen hatte. Das würde den Verfolgern später helfen. Mrs Clair zwang sich, darüber Freude zu empfinden, dass sie in keiner akuten Gefahr schwebten, dass niemand sie in den nächsten Minuten verhaften würde.
Mrs Clair sammelte ihre versiegenden Kräfte. Wenn es nur um sie ginge, würde sie zu dem stehen, was sie getan hatte, doch die arme kleine Marjorie musste umsorgt und beschützt werden. Sie setzte sich aufrecht hin und zwang sich, heiter und gelassen zu erscheinen, und sie stupste Marjorie an, um deren Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Marjorie erschrak und sah sich um und bemerkte dann das ernste Stirnrunzeln ihrer Mutter und ihr Kopfschütteln. Was Marjorie seltsam an den wortlosen Tadel erinnerte, den sie vor fast dreißig Jahren in der Kirche bekommen hatte, wenn die Predigt ihr zu langweilig geworden war. Die Warnung übermittelte sich durch die Gesten ihrer Mutter, doch in weit größerem Maße noch beruhigte Marjorie das Beispiel ihrer anscheinend so gelassenen Mutter. Sie versuchte, ihr Schluchzen in den Griff zu bekommen, und setzte sich in einer natürlichen Haltung hin. Sie konnten nicht miteinander reden, konnten kein bedeutungsloses Gespräch führen, was am besten gewesen wäre, wenn sie unauffällig wirken wollten. Und so saßen sie beide einfach nur steif da, Seite an Seite, und bemühten sich, nicht jedes Mal über die Schulter zu schauen, wenn wieder jemand neu zugestiegen war, den ganzen Weg bis nach Croydon.
Mrs Clair hatte eigentlich auch keine Zeit oder Energie übrig, um ihre Schauspielkunst zu verfeinern. Ihre Gedanken waren vollauf damit beschäftigt, Fluchtpläne zu schmieden.Abgesehen von der einfachen Vorsichtsmaßnahme, die fünfzig Pfund von ihrem Bankkonto abzuheben, hatte sie noch keinen Gedanken daran verschwendet; so zuversichtlich war sie gewesen, dass es keinen Grund zur Flucht geben würde. Jetzt erschien ihr sogar die lange Fahrt nach Croydon zu kurz, um die Einzelheiten dessen zu bedenken, was sie als Nächstes tun sollten – und die Einzelheiten waren, wie Mrs Clair deutlich erkannte, genauso wichtig wie der generelle Plan.
Croydon war ein großer Verkehrsknotenpunkt, das wusste sie, von dort fuhren Züge und Busse in alle Richtungen, nach London hinein, in andere Vorstädte, hinunter an die Küste. Sie mussten die Küste erreichen, entschied sie auf Anhieb. Die Urlaubssaison war immer noch auf dem Höhepunkt. Der August war noch nicht einmal vorüber. Sie waren jetzt zwei heimatlose Frauen, und was war natürlicher für zwei Frauen, als vorübergehend Unterkunft in einem Urlaubsort zu suchen? Und dann war da noch die Frage nach heute Abend. Ohne Gepäck, und Marjorie ohne Hut oder Jackett, würde man sie in jedem Hotel und jeder Pension entsetzt ansehen, und man würde sich später an sie erinnern. Morgen könnten sie das in Ordnung bringen, doch heute Abend dürfte es schwierig für sie werden, ein Zimmer zu finden. Mrs Clair beschwor ihre Erinnerungen an die Städte an der Küste im Süden herauf und fragte sich, ob sie dort irgendwo die ganze Nacht lang unterkommen könnten oder nicht.
»Bahnhof Croydon-Ost«, rief der Schaffner, als der Bus anhielt.
Wieder stupste Mrs Clair ihre Tochter an, und sie folgten der großen Menge Fahrgäste, die aus dem Bus ausstiegen. In der hell erleuchteten Schalterhalle musterte Mrs Clair die Anzeigetafel. Heute Abend würde noch ein Zug nach Brighton fahren, in einer Viertelstunde. Sie machte ihre Handtascheauf, zog eine Banknote aus ihrer kostbaren Geldrolle und ging an das Schalterfenster.
»Drei einfache Fahrten nach Brighton, bitte«, sagte sie bestimmt. Als sie die Stufen zum Bahnsteig hinuntergingen, flüsterte Marjorie eindringlich auf sie ein – inzwischen hatte sie sich, dank des Beispiels ihrer Mutter, wieder so weit erholt,
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