Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
schmerzte, wo die Finger ihrer Tochter sich in ihn krallten.
»Na, na«, erwiderte sie besänftigend. »Nur noch etwas weiter.«
Jetzt waren sie auf der Promenade, in der Nähe des Piers. Mrs Clair ging mit festen Schritten auf das Stadtviertel Kemp Town zu. In einem der Pavillons dort saßen noch zwei Leute – wahrscheinlich ein Liebespaar. Sie gingen noch an einigen weiteren Pavillons vorbei, ehe Mrs Clair innehielt.
»Hier setzen wir uns hin«, sagte sie.
Sie ließ sich auf der Bank dort nieder und bemerkte plötzlich, dass sie sehr, sehr müde war. Marjorie setzte sich neben sie.
»Hier«, sagte Mrs Clair. »Die habe ich mitgenommen, damit dir nicht so kalt wird.«
Im Zug hatte Mrs Clair sich daran erinnert, dass Zeitungspapier half, wenn man der Kälte ausgesetzt war. Damals in den Kriegsjahren hatte sie Lagen von Zeitungspapier zwischen die Bettdecken gelegt.
»Damit wickeln wir dich ein«, sagte Mrs Clair. »Unter dem Rock.«
Marjorie stand gehorsam da, während ihre Mutter ihr den Rock anhob und sie mit einem zusätzlichen Petticoat aus Zeitungspapier ausstaffierte.
»Na also«, sagte Mrs Clair. »Schon besser. Einen Moment noch. Ich falte nur das hier noch zusammen, dann kannst du dich mit dem ... dann kannst du dich darauf setzen. Ist es bequem so? Und jetzt versuch zu schlafen, Liebes. Leg deine Beine hoch. Genau so. Gute Nacht, Liebes.«
Als der Verkehr ganz aufhörte, nahmen sie das Geräusch des Meeres immer noch deutlicher wahr. Sie konnten hören, wie die kleinen Wellen sich am Strand brachen und wie es in den Kieseln rauschte, wenn das Wasser wieder abfloss. Eine Zeit lang glaubte Marjorie beinahe daran, dass sie wirklich einschlafen würde. Sie war so müde, und ihre Mutter hatte sich rührend um sie bemüht. Doch als sie mit geschlossenen Augen dasaß, hörte sie gemessene Schritte herannahen. Ihre Glieder wurden steif. Sie war starr vor Angst. Mord! War das die Polizei, die sie verhaften kam? Sie starrte durch die Dunkelheit das Profil ihrer Mutter an, das undeutlich in der anderen Ecke des Pavillons zu erkennen war.
»Mutter!«, sagte sie angsterfüllt.
»Scht!«, machte Mrs Clair.
Die Schritte kamen näher. Jetzt waren sie auf ihrer Höhe. Und dann gingen sie vorüber – es war nur ein verspäteter Passant gewesen, der die Promenade entlang nach Hause ging.
»Schlaf jetzt, Liebling«, sagte Mrs Clair. »Mutter ist bei dir.«
Auch das war eine alte Formel, dreißig Jahre alt.
Es dauerte eine Weile, bis Marjories stark pochendes Herz sich wieder beruhigt hatte. Dann döste sie ein, mehr als ein Mal, aber immer nur leicht und unruhig. Jedes Mal wieder schreckte sie schwitzend vor Angst auf. Neue furchterregende Gedanken waren ihr gekommen. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie Teds Auge gar nicht bemerkt – das eine Auge, das zu sehen war –, doch jetzt erinnerte sie sich deutlich daran. Halb geöffnet und matt war es gewesen, sodass man gerade eben noch ein bisschen von dem leblosen Weiß und der Pupille erkennen konnte. Das Bild erschien ihr, um das Zwanzigfache vergrößert, im Schlaf.
»Scht, Liebling!«, sagte Mrs Clair. »Mutter passt auf dich auf.«
Und dann kam ihr ein weiterer Gedanke, ein noch viel schrecklicherer, wenn das möglich war.
»Mutter!«, sagte sie aus ihrem Dösen aufschreckend. »Was wird aus den Kindern?«
»Es wird sich schon jemand um sie kümmern. Mach dir darum keine Sorgen«, erwiderte Mrs Clair beruhigend.
Das musste Telepathie gewesen sein, denn Marjorie hatte diese Frage genau in dem Augenblick gestellt, als Mrs Clair selbst voller Angst und Schrecken an die Kinder gedacht hatte. Doch sie erlaubte es sich nicht, irgendein Anzeichen ihrer Angst durchscheinen zu lassen, als sie ihre Tochter beruhigte.
»Ich meine nicht jetzt, Mutter«, fuhr Marjorie ungestüm fort – bislang war sie noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass die schlafenden Kinder in diesem Moment allein zu Hause waren –, »ich meine, was wird aus ihnen werden? Was sollen sie tun, wenn ... wenn ...«
Marjorie fehlte es an Worten, um die ungewisse Aussicht darauf, ob sie der Polizei entkommen würden oder nicht, zu beschreiben.
»Oh, mach dir jetzt keine Sorgen um die beiden, Liebes. Es wird ihnen gut gehen. Darum kümmern wir uns später.«
Mrs Clair hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was aus den Kindern werden würde – ihr schmerzte der Kopf, wenn sie nur daran dachte –, doch sie sprach so bestimmt und beruhigend, wie sie konnte.
»Und dann ist da ja auch
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