Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
und er oft zärtlich und verständnisvoll
gewesen war. Ihrer Zuneigung und Treue schien er inzwischen zu sicher zu sein und
brauchte sich nicht mehr anzustrengen. Er war häufig von einer fast krankhaften
Ruhelosigkeit, und wenn sie nicht klettern gingen, machten sie Besuche bei seinen
italienischen Freunden und bei anderen Bekannten. Es nützte nichts, wenn Eva ihn
von Zeit zu Zeit bat, etwas mit ihr allein zu unternehmen, richtige Ferien zu machen,
auszuspannen, das habe auch sein Arzt empfohlen. Er müsse Beziehungen pflegen, behauptete
er dann, er verdanke vor allem der Familie Manzoni viel.
Bei schlechtem
Wetter war es in der kleinen Hütte am Völser Weiher oben selbst im Hochsommer kühl,
feucht und dunkel. Wenn es regnete, saßen sie stundenlang in den Gasthöfen der Gegend
herum, trösteten sich mit Kaffee und Kuchen und lasen Zeitungen und Zeitschriften.
Eva fühlte sich an trüben Tagen, wenn die Wolken tief über die Felsen der Dolomiten
hingen, nirgends zu Hause, und Alex machte ein griesgrämiges Gesicht. Ein Tag ohne
Berg- oder Klettertour – für ihn ein verlorener Tag.
Selten fuhren
sie, um die Zeit bis zur nächsten Bergtour zu überbrücken, nach Bozen hinunter,
schlenderten durch die Laubengass mit den vielen Erkern und Balkönchen und kehrten
im gemütlichen Restaurant des Hotel Central ein. Alex verschlang Riesenportionen
von Roastbeef oder Sauerkraut mit Wurst und Speck und erholte sich zusehends. Am
nächsten Tag schritt er mit so langen Schritten voraus, dass man ihm kaum mehr zu
folgen vermochte.
In Bozen
gefiel es Eva, und sie hätte sich gut vorstellen können, dort eine Wohnung zu mieten.
Alex jedoch schien nicht an eine solche Möglichkeit zu denken, ihm genügte die einfache
Hütte am Waldrand.
Warum steigt man auf Berge? Machte
sich Eva während ihres Sommers in Südtirol je Gedanken zu diesem Thema? Kaum. Erst
später dachte sie darüber nach. Sie war nur Mitläuferin, Mitgängerin, Mitkraxlerin,
der Impuls zum Klettern ging nicht von ihr aus.
1924 veröffentlichte
Eugen Guido Lammer, ein österreichischer Alpinist und Schriftsteller, ein Befürworter
des Erlebnisbergsteigens, ein schmales, längst vergriffenes Buch über »Bergsteigertypen
und Bergsteigerziele«.
Es gibt
laut Lammer: Entdecker, unsportliche Bergwanderer, Problemlöser, Kämpfer, Führerlose,
Gipfelfresser, alpine Feinköstler, Gruppenfreunde, Hasardspieler – oder universale
Alpinisten. Wo wäre Alex einzustufen?
Wollte er
in den Bergen Gefahren bestehen? Widerstände brechen? Möglichst oft unterwegs sein
zu einem Gipfel? Reizte ihn die Höhe? Suchte er Schwierigkeiten, wollte er sich
selbst überwinden, sich etwas beweisen?
Sein Motiv
war Eva nicht klar, aber sie beobachtete, wie er auf jeder Bergtour auflebte. Nur
in den Felsen oder auf einem Gletscher oder Gipfel schien er glücklich oder zumindest
zufrieden mit sich und der Welt. Er wurde auf einmal ein anderer Mensch, jemand,
auf den man sich verlassen konnte, schien ihr; jemand, der einen durch Gefahren
führte und die Verantwortung auf sich nahm; jemand, der den richtigen Weg suchte
und fand. Immer, in jeder Lebenssituation, glaubte sie. Genau das gefiel ihr an
ihm.
Er schien
jedenfalls kein Problemlöser zu sein, der einen Gipfel oder einen Kletterhang von
der falschen, tollkühnen Seite anpackte, nur um eine Herausforderung anzunehmen.
Auf Eva wirkte er wie ein »echter« Bergführer, und sie war überzeugt: auf ihn konnte
man sich in jeder Situation verlassen.
In Ludwig Hohls »Bergfahrt«, der
berühmten Erzählung, in der zwei junge Bergsteiger scheitern, stellt sich der eine
die Frage: »Warum steigt ihr auf Berge?« Und er findet in einem Moment zwischen
Wachsein und Träumen die endgültige Antwort.
Er zählt
verschiedenste Gründe auf, wägt ab und findet, man steige auf Berge, um dem Gefängnis
zu entrinnen.
Welchem
Gefängnis wollte Alex entrinnen? Seiner vom fordernden Vater geprägten Kindheit?
Und Eva?
Sie brauchte keinem Gefängnis zu entrinnen, deshalb stieg sie auch nicht aus eigenem
Antrieb auf Berge.
Gefängnis. Eva saß, während
sie die alte Geschichte eines Sommers in Südtirol aufschrieb, immer noch im dritten
Stock des Unabhängigen Literaturhauses in Krems/Stein, mitten in der Kulturmeile,
und sah auf die vorbeifließende Donau. Das Thermometer zeigte beinahe 38 Grad, zu
heiß, sich draußen aufzuhalten. Oben unter dem Dach wäre es unerträglich gewesen,
wenn sie nicht halb nackt am Laptop gesessen und
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