Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
meist in finanziell prekären Verhältnissen. Er hielt sich von
den kärglichen Honoraren, die er durch das Veröffentlichen kurzer Texte in Zeitungen
verdiente, über Wasser und wurde von Freunden unterstützt. Sieben Jahre verbrachte
er in Paris, dann hielt er sich 1930/31 in Wien und weitere sechs Jahre in Holland
auf, bis er 1937 in die Schweiz zurückkehrte, zuerst nach Biel.
Bis zu seinem
Tod 1980 wohnte er später völlig zurückgezogen im Keller eines Mietshauses im Arbeiterviertel
La Jonction in Genf, wo er die – inzwischen berühmt gewordenen – verstaubten und
vergilbten Manuskripte an Schnüren quer durch den Raum aufhängte. Ein Bild, das
blieb, ein Symbol für die Armut des Schriftstellers. Seine Lebenspartnerin während
der Pariser Jahre, die Pianistin Gertrud Luder, kam 1946 in den Bergen ums Leben.
Fünf Mal war er verheiratet, einmal mit der Malerin Hanny Fries, und er hatte eine
Tochter. Er liegt auf dem Cimetière des Rois in Genf begraben, wie seine letzte
Frau, Madeleine Hohl-de Weiss. 1978 erhielt er den Robert Walser-Centenarpreis.
Hohl: Ein
Arbeiter, der unablässig und mit unheimlicher Konsequenz seine oft kühnen, eigenwilligen
Gedanken in Notizen, Aphorismen, Fragmenten, Erzählungen festhielt. Durch übermäßigen
Alkoholkonsum versuchte er, seine Produktivität zu steigern.
Die Erzählung
»Bergfahrt« begann er 1926. Bis 1940 schrieb er sie sechs Mal neu. Über 30 Jahre
ließ er sie liegen. 1975 erschien sie erstmals im Suhrkamp Verlag, nur ein schmales
Buch, keine 100 Seiten …
Hohl war
in seiner Jugend ein begeisterter Berggänger und blieb es in seinem Schreiben. »
…die Abgründe hören für einen Alpinisten nie auf.« Jeder Text musste für ihn ein
Berg gewesen sein, den es zu bezwingen galt. Ein unablässiger Aufstieg. »Arbeiten
und Gebirge« brachte er als Themen in »Nuancen und Details« zusammen. »Wie die in
die Nacht Steigenden sind wir«, steht da und schließlich, kursiv gedruckt: »Es
gibt immer ein Höher-oben.«
Mit seiner
Ausdauer, Zähigkeit, Kühnheit, Unbestechlichkeit, Geduld und Skepsis und seiner
Verantwortung gegenüber dem geschriebenen Wort ist Hohl eine Art Extrem-Schriftsteller,
und die Schwierigkeitsgrade seines Schreibens haben etwas derart Schwindel Erregendes,
dass sie nicht einzustufen sind, dachte Eva.
Der Erzählfluss stockte. Einerseits
hielt sie die ungewöhnliche Hitze im Literaturhaus davon ab, lange am PC zu sitzen
und zu schreiben – anderseits die Lektüre des »Urteils des Volksgerichts Wien (August
1946) gegen die Verantwortlichen des Massakers im Zuchthaus Stein«, herausgegeben
1995 vom Bundesministerium für Justiz, Dokumentationsarchiv des Österreichischen
Widerstandes. Die schwarze Broschüre, immerhin über 100 Seiten stark, mit dem schlichten
Titel »Stein 6. April 1945« hatte sie aufgewühlt.
Eva war
in der Bibliothek des ULNÖ darauf gestoßen und hatte das Büchlein mit in den Dachstock
hinauf genommen und gelesen, lesen müssen , denn es war wichtig,
fand sie, die Wahrheit zu kennen.
Im Vorwort
der Herausgeber stand deutlich: »Nur öffentliches Erinnern holt
Wunden aus dem Dunkel und macht sie bewältigbar. Denn so wie der einzelne Mensch,
hat auch eine Gesellschaft richtige und falsche Wege zurückgelegt, und es ist Aufgabe
der Historiker, sie ans Licht zu holen und Erklärungsversuche anzubieten. Historiker
sind keine Staatsanwälte und keine Richter, sie sind Aufdecker, weisen auf verborgene
Zusammenhänge und Wurzeln hin und erhellen Strukturen und Mentalitäten. Eine Auseinandersetzung
mit dunklen Phasen der eigenen Geschichte ermöglicht erst, sie in das eigene Bewusstsein
aufzunehmen und sensibler zu werden für das Andere der Gegenwart.« (Gerhard
Jagschitz/Wolfgang Neugebauer)
An der Justizanstalt
Stein war jedoch keine Tafel zum Gedenken an die Ermordeten während des Massakers
vom 6. April 1945 angebracht. Die Inschrift am Eingang des Friedhofs hatte Eva missverstanden,
jedenfalls hatte sie nicht sofort an das Zuchthaus Stein gedacht …
Die Maria
Grengg-Gasse hinter dem Friedhof gegenüber dem Gefängnisgebäude empfand sie jetzt
als Hohn. Gestorben war die Grengg, die »große Heimattochter«, 1963; sie hätte im
Alter die Möglichkeit gehabt, einzusehen, dass sie mit den Falschen sympathisierte
– und zu ihrem Irrtum stehen können.
Es war allerdings
einfach, aus der Distanz von einem halben Jahrhundert über jemanden zu urteilen.
Sie konnte nur hoffen, dass sie anders als Maria Grengg
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