Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
auch die beiden andern Tofanen, die Tofana di Dentro und die Tofana
di Mezzo, beide über 3000 Meter hoch, mussten unbedingt bestiegen werden!
Eva erwähnte eines Morgens, sie
habe leichte Halsschmerzen. Alex schien plötzlich schlechter Laune zu sein.
»Warum nimmst
du nicht für einige Tage ein Zimmer im Gasthof unten, bis du wieder gesund bist?«,
schlug er vor.
»Ich bin
gar nicht krank, nur etwas erkältet, das geht rasch vorbei«, wehrte sie sich, doch
Alex gab nicht nach, bis sie einige Kleider zusammenpackte. Er fuhr sie sofort zur
»Waldruh« hinunter.
»Ich komme
morgen vorbei, ruhe dich aus, pflege dich«, sagte er kurz, und schon blieb sie mit
dem Koffer allein zurück, und der Taunus verschwand unten im Wald. Man hörte nur
noch eine Weile das Brummen des Motors und das Knirschen des Kieses unter den Pneus.
Eva hatte
Hemmungen, sich nach einem freien Einzelzimmer zu erkundigen. Die freundliche Wirtin,
bei der sie schon öfters eingekehrt waren, stellte jedoch keine Fragen, verlangte
nicht einmal ihren Pass und behandelte sie beinahe wie eine Einheimische.
»Wie lange
bleiben Sie?«
»Ich bin
nicht sicher, vorerst eine Nacht.«
Später setzte
sie sich auf die überdachte Holzterrasse an einen kleinen Tisch und versuchte, sich
mit Schreiben abzulenken, während die wenigen Feriengäste, meist ältere Ehepaare,
die hier oben Ruhe und Erholung suchten, um sie herum plauderten und hellroten Kalterer
Spezial tranken, bis es Zeit fürs Mittagessen war. Eva dachte an das Lara-Häuschen
oben am Waldrand, ohne Wasser, ohne jeglichen Komfort, und die primitive Unterkunft
kam ihr nun wie das Paradies vor, aus dem sie verstoßen worden war. Warum hatte
Alex darauf bestanden, dass sie ein Zimmer im Gasthof nahm?
Nach dem
Essen holte sie in ihrem Zimmer ein Buch und legte sich am Weiher in die Sonne.
Anstatt zu lesen, träumte sie vor sich hin, schlief ein und erwachte erst, als die
Sonne bereits hinter der riesigen, zerklüfteten Wand des Schlern versunken war.
Die farbigen Sonnenschirme drüben beim Gasthof waren inzwischen zusammengeklappt
worden. Wilde Enten zogen zwischen den Seerosen auf dem Weiher ihre Kreise und schnatterten.
Der Abendwind war kühl, und Eva fröstelte. Vielleicht ist es eine Kälte, die von
innen kommt, überlegte sie. Wahrscheinlich bin ich tatsächlich krank, aus Angst,
Enttäuschung und Sehnsucht, und Alex wird nie mehr zurückkommen, und alles ist aus.
Warum hat er nicht gesagt, er werde heute Abend da sein? Wir hätten hier zusammen
etwas essen können. Ist er froh, mich loszuwerden?
Zum ersten
Mal diesen Sommer waren sie länger als nur einige Stunden getrennt.
Eva dachte
an das Schlimmste, was passieren konnte: Wie sie bald in die Schweiz zurückfahren
würde, krank, mit gebrochenem Herzen und einem Koffer voll schmutziger Wäsche. Eine
Erkältung, etwas Fieber und Halsweh – das war harmlos, das konnte man leicht heilen.
Aber sie hatte diesen Sommer zu tief geliebt, zu intensiv gelebt, und das hatte
Spuren hinterlassen, die für immer bleiben würden. Sie neigte ohnehin dazu, eine
solche Situation zu dramatisieren und versuchte, allerdings vergeblich, über sich
zu lächeln.
Nach dem
Abendessen lag sie im fremden Zimmer im Berggasthof. Allein. Alex war nicht aufgetaucht.
Ab und zu knarrte irgendwo ein Holzboden, und aus der Gaststube im unteren Stock
drangen Stimmen und Gelächter herauf. Der geblümte, altmodische Vorhang wehte leise
auf und ab und gab den Blick frei auf die jetzt tiefschwarzen Felsen des Schlern.
Eva zog die Decke bis zum Hals, schloss die Augen und versuchte, klare Gedanken
zu fassen. Alles drehte sich in ihrem Kopf, als wäre ihr schwindlig.
Hatte sie
Fieber, oder war die Sonne mittags zu heiß gewesen, als sie auf den Holzpritschen
einschlief? Sie dachte wieder und wieder an das kurze Gespräch mit Alex. Er hatte
sie tiefer verletzt, als sie zugeben wollte. Sie war sonst immer bereit, ihm zu
verzeihen, Verständnis und Geduld aufzubringen, doch seine lieblose Art, sie wegen
einer Erkältung in den Gasthof zu verbannen, tat ihr diesmal weh. Oder nahm sie
den Vorfall zu ernst? Er hatte vermutlich befürchtet, auf eine Bergtour verzichten
zu müssen, weil sie sich unwohl fühlte. Sie war ihm lästig geworden, ein Hemmschuh.
Oder hatte er vor, eine ehemalige Freundin heimlich hinter ihrem Rücken zu treffen?
Auf dem
Nachttisch lag ein Foto von Alex und ihr auf dem Gipfel des Kesselkogels. Ihr Bruder
hatte es geknipst. Sie stützte den Kopf auf
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