Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
auf die Hochtour verzichten, sie im letzten Moment absagen
sollen oder zumindest feststellen müssen, dass Marios Ausrüstung bei Minustemperaturen
ungenügend war? Er hätte ihn nicht dem Risiko einer möglichen Erfrierung aussetzen
dürfen. Vielleicht war es ohnehin unverantwortlich gewesen, bei schlechtem Wetter
eine zweitägige Hochtour mit Leuten zu unternehmen, die dazu kaum die nötige Kondition
hatten.
Ada meinte
auf der Rückfahrt im Auto sehr bestimmt und mit vorwurfsvollem Ton zu Alex, das
sei ihre letzte Tour gewesen. »Ich komme nie mehr mit, hörst du, nie mehr, ich habe
jetzt endgültig genug vom Bergsteigen! Ich bin müde und will mich in Zukunft nur
noch um meine Kinder kümmern. Wenn uns etwas zugestoßen wäre … Ich darf gar nicht
daran denken!«
»Die unübliche
Kälte war ebenso wie das Wetter nicht vorauszusehen. Und Mario hätte gefütterte
Handschuhe, nicht dieses wollene Zeug, das nichts taugt, tragen sollen, er ist erwachsen
und müsste das längst wissen«, versuchte Alex, sich zu verteidigen.
»Du hättest
dich vorher darum kümmern sollen, ob alle genügend warme Kleider bei sich hatten.
Ich finde dein Verhalten unmöglich, ja verantwortungslos, geradezu grob fahrlässig«,
entgegnete Ada heftig.
In Eva kamen
Zweifel auf. Konnte man sich auf Alex wirklich verlassen, wie sie bisher geglaubt
hatte? Oder dachte er zu viel an sein eigenes Vergnügen und wollte in erster Linie
seinen bergsteigerischen Ehrgeiz befriedigen? Der Angelus – eine neue Trophäe auf
seiner Gipfelliste.
9
Eine Aufnahme aus einem Bergbuch
hatte Eva als Jugendliche tief beeindruckt und war ihr noch nach Jahrzehnten in
Erinnerung geblieben: ein französischer Alpinist auf einer Himalaya-Expedition mit
erfrorenen Händen, die nur noch aus Hautfetzen bestanden, und einem von Strapazen,
Entbehrungen und Leiden gezeichneten Gesicht. Was für ein Held, den sie bewundert
und gleichzeitig bemitleidet hatte! Wirklich verstehen konnte sie trotzdem nicht,
weshalb sich ein Mensch derart abquälte, nur um als Erster auf einem Gipfel zu stehen.
War das Mut oder krasse Fehleinschätzung seiner Kräfte?
Sie suchte
viel später in einer Bibliothek nach dem alten Buch – und stieß instinktiv auf das
richtige. Sie hatte das Foto allerdings farbig im Gedächtnis, und als sie es nun
wieder fand, war es schwarz-weiß und wirkte weniger dramatisch: Maurice Herzog,
geboren 1919, nach der Besteigung der Annapurna, am 3. Juni 1950. Sein Begleiter
Louis Lachenal und er waren die ersten Menschen, die einen Achttausender bezwangen.
Beide entrannen nur knapp dem Tod und trugen schwere Erfrierungen davon. »Aber der
Sieg ist errungen!«, stand unter dem Foto. Um was für einen Preis! Die beiden Männer
mussten mit erfrorenen Händen und Füßen in tagelangen Märschen ins Tal getragen
werden und litten unter unvorstellbaren Schmerzen.
Herzog schrieb
seinen dramatischen Bericht über die legendäre Expedition des Sommers 1950 im Amerikanischen
Lazarett in Neuilly-sur-Seine, Frankreich, das heißt, er diktierte den Text, da
er seine Hände nicht gebrauchen konnte, sondern sie monatelang behandeln lassen
musste.
Im Vorwort
erklärte er: »In den Augenblicken der Todesangst war mir, als entdeckte ich den
tiefen Sinn des Daseins, der mir bis dahin entgangen war, ich erkannte, dass es
mehr darauf ankommt, wahr zu sein als stark. Meine Narben sind ein Andenken jener
Prüfung. Zugleich mit meiner Rettung errang ich die Freiheit, eine Freiheit, für
die ich mir seither einen geschärften Sinn bewahre. Sie nährt in mir die kühle Haltung
und Heiterkeit eines Menschen, der sich vollendet hat. Sie erfüllt mich mit der
unermesslichen Freude, zu lieben, was ich geringschätzte. Ein neues, wunderbar schönes
Leben beginnt für mich.«
Ein Leben
allerdings ohne weitere Besteigungen und »Eroberungen« von Gipfeln, ohne Klettereien
mehr. Warum hatte Herzog unbedingt zu einer solch gefährlichen Expedition aufbrechen
wollen? Machte das Sinn? »Was vielleicht keinen Sinn hat, hat mitunter doch eine
Bedeutung. Das ist die einzige Rechtfertigung eines an sich grundlosen Beginnens«,
schrieb er.
Das Buch
»Annapurna« erreichte eine Millionenauflage, und Herzog, der nun anstelle einer
alpinistischen eine ebenso erfolgreiche politische Karriere einschlug, wurde Abgeordneter
in Paris, dann Minister für Jugend und Sport im Kabinett von Charles de Gaulle und
schließlich Bürgermeister von Chamonix. Er lebt heute noch in Neuilly-sur-Seine,
ein alter
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