Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
Tofana di Rozes, obwohl
das Wetter dazu nicht gerade günstig war. Am vereinbarten Morgen stand deshalb nur
eine kleine Gruppe auf dem Dorfplatz bereit, die meisten Italiener hatten es vorgezogen,
auszuschlafen. Antonio war da mit Paul, seinem 12-jährigen Jungen, Daniela, eine
schwarzhaarige Lehrerin aus Florenz, und Enrico, ein junger Rechtsanwalt aus Rom.
Man entschloss sich, Richtung Cortina d’Ampezzo zu fahren und die berühmten Tofanen
– es gibt drei davon, und sie gehören zu den markantesten, höchsten Dolomitengipfeln
– wenigstens aus der Nähe zu betrachten.
Als sie
durch das wilde Val Parola fuhren, war es kalt und neblig, und die drei Gipfel der
Tofanen blieben verhüllt. Alex ließ Seile und Karabiner im Auto zurück und schlenderte
mit seinem kleinen Tross zum Klettereinstieg, zuerst durch eine Höhle, dem berühmten
»Castelletto«, und plötzlich standen sie vor den steilen, mächtigen Wänden der 3225
Meter hohen Tofana di Rozes, sodass es Eva fast den Atem nahm – vor Ehrfurcht.
Auf den
ersten Blick wurde allen klar, dass Paul mit seinen noch kurzen Armen und Beinen
da nicht hinaufklettern konnte. Alex lehnte es ab, für den Jungen die Verantwortung
zu übernehmen und schlug vor, dass die Gruppe den Normalweg einschlagen solle, während
er mit Eva allein den Aufstieg über die Via Ferrata Lipella in der Westflanke wagen
wollte. Am späten Nachmittag konnte man sich in der Hütte wieder treffen und gemeinsam
zurückfahren.
»Eva, hast
du Lust mitzukommen?«
»Ist das
nicht zu schwierig für mich?«, fragte sie zweifelnd.
Ȇberhaupt
nicht. Du hast erstaunliche Fortschritte gemacht im Klettern und schaffst das spielend
nach all den Touren, die wir bereits hinter uns haben.«
Das unverhoffte
Kompliment beflügelte sie.
Alex kletterte
voran, ohne Seil. Eva folgte ihm mit einigen Metern Abstand nach und fand auf einmal
ihren eigenen Rhythmus. Sie empfand es als schön, ausnahmsweise nicht an ein Seil
angebunden zu sein und völlig frei klettern zu können. Meter um Meter gewann sie
an Höhe, und die Zeit schien wie immer in einer Wand stillzustehen. Die Griffe wurden
schwieriger. Sie kämpfte sich verbissen vorwärts und holte Alex bald ein.
»Ruh dich
ein bisschen aus, bevor du diese Stelle hier in Angriff nimmst. Schau genau zu,
wie ich es mache!«, rief er ihr zu. Sie wusste, dass es nun schwierig werden würde
und beobachtete ihn aufmerksam, bevor sie ihm folgte. Manchmal glaubte sie sekundenlang,
nicht weiterzukommen, hatte den Eindruck, in den Felsen steckenzubleiben. Vor dem
Abstieg schauderte ihr, es kam ihr viel leichter vor, aufwärts zu klettern als abwärts,
und sie zog sich mit aller Kraft hoch. Eine kleine Unebenheit – und die vorderste
Spitze des Schuhs hatte darauf gerade genügend Platz, um ein Stück weiterzukommen.
Es war das
erste Mal, dass sie sich im Fels sicher fühlte, mit der Natur in Einklang, und sie
konnte jeden Griff genießen. Das also musste das Kletterfieber sein, ansteckend
wie ein Virus, die Leidenschaft für die Berge, die Alex erfüllte. Auch sie bekam
nun endlich eine Ahnung von dieser Passion. Auf früheren Touren war sie allzu sehr
davon absorbiert gewesen, die einzelnen Bewegungen, Griffe und Tritte richtig zu
machen und hatte sich oft unsicher und linkisch gefühlt.
Und da stand
sie auf dem Vorgipfel. Es regnete und schneite durcheinander, aber sie spürte die
Kälte nicht, alle ihre Muskeln waren durchwärmt, und der Gipfel schien nur noch
ein kleines Stück vor ihnen zu liegen. Das war zwar eine optische Täuschung, denn
die letzte schmale Spur führte noch eine gute halbe Stunde über Schneefelder und
rutschiges Geröll und wollte kein Ende mehr nehmen. Immer wieder musste sie kurz
stehen bleiben und schwer Atem holen.
Als sie
dann mit Alex endlich den Gipfel der Tofana erreichte, in Schnee, Nebel, eisigem
Wind, vor dem großen, umgelegten Eisenkreuz, wo Vögel genistet hatten und sich von
den Abfällen der Alpinisten ernährten, war sie stolz und glücklich wie nie zuvor
auf einer Klettertour. Vielleicht war es der schönste Augenblick des ganzen Sommers,
der bergsteigerische Höhepunkt jedenfalls. Auch für Alex war es das erste Mal, dass
er auf der Tofana di Rozes stand. Er umarmte seine Freundin und bat einen anderen
Bergsteiger, sie beide zu fotografieren, das obligate Gipfelfoto durfte unter keinen
Umständen fehlen! Es war geradezu ein historischer Augenblick, der für immer festgehalten
werden musste.
Später gab
er keine Ruhe,
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