Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
eine warme Mütze, die man über die Ohren ziehen konnte, zwei
Paar Socken und vor allem warme Handschuhe.
Für Eva
war es die erste richtige Hochtour mit Pickel, und nur mit Müh und Not gelang es
ihr, mit den klammen Fingern die Steigeisen an den Schuhen zu befestigen. Sie stiegen
quer über steile Schneefelder langsam höher. Körperlich wurde man anfänglich noch
nicht allzu sehr gefordert, doch die unerwartete, beißende Kälte dieses Morgens
war kaum zu ertragen. Es war erst August, aber so kalt wie im tiefsten Winter, und
nachts hatte es geschneit.
Oben auf
dem Grat wurde es noch schlimmer. Die Hände in den Handschuhen waren fast gefühllos
vor Kälte. Eva stieg mit vom Wind abgewandtem Gesicht weiter, die Minuten schienen
zu Stunden zu werden, unerträglich lang. Sie konnte kaum mehr atmen, und der Wind
heulte so laut, dass jedes Wort verloren ging. Hinter ihr kämpfte Bruno sich hoch,
und plötzlich hatte er eine Krise. Er begann zu weinen und zu klagen wie ein kleines
Kind: »Meine Hände, meine Hände – ich spüre meine Finger nicht mehr, ich kann nicht
mehr. Ich will heim. Ich will zurück!«
Alex sprach
ihm beruhigend zu, es sei nicht mehr weit bis zum Gipfel, er solle sich bewegen,
die Finger massieren. Vorwärts! Und als auch dies nichts nützte und Bruno einfach
stehen blieb, mussten ihn die anderen am Seil mitziehen. Er folgte widerstrebend
und wimmernd wie ein kleiner Hund.
Die letzten
Meter vor dem Gipfel waren eine einzige Qual für alle, und auch Ada rief einige
Male laut: »Mir reicht’s! Nie mehr! Nie mehr!«
Francesco
überholte Alex’ Seilschaft. Mario klage ebenfalls über eiskalte Hände, er trage
zwar Handschuhe, leider nur solche aus Wolle, offenbar würden diese zu wenig vor
der Kälte schützen, berichtete er und mahnte Alex: »Wir müssen uns beeilen, sonst
… Erfrierungen der Extremitäten sind nicht harmlos.«
»Ich weiß.
Wir sind gleich oben«, sagte dieser knapp.
Diesmal
gab’s kein Gipfelfoto, keine Rast, man blieb kaum stehen. Die Windstöße waren so
heftig, dass man das Gesicht in den Armen verbarg und hoffte, nicht in die Tiefe
gerissen zu werden.
Später,
als sie wieder unterhalb des Grats standen und über die weichen Schneefelder abstiegen,
verwandelte die Sonne, die nun endlich aufging, die Landschaft in ein einziges Glitzern
und Glänzen, und es wurde rasch wärmer. Schon waren die Strapazen und die unangenehme
Kälte fast vergessen. Gutgelaunt erreichten die zwei Seilschaften die Felsen; weiter
unten wurden die Steigeisen nicht mehr benötigt. Alex erkundigte sich nun endlich
nach Marios Händen.
»Ich spüre
nichts mehr, meine Finger sind wie abgestorben«, erklärte dieser resigniert und
brachte es nicht fertig, die steifen Riemen der Steigeisen selber zu lösen.
»Es sieht
tatsächlich aus wie eine richtige Erfrierung«, sagte Alex besorgt, der Marios Hände
zum ersten Mal von nahem anschaute, und er trieb alle zur Eile an. »Wir müssen Mario
sobald wie möglich in die Hütte bringen, vermutlich braucht er einen Arzt. Bei Erfrierungen
muss man vorsichtig sein. Vorwärts jetzt, wir dürfen keine Zeit verlieren. Schnell!«
Erst in
der Wärme der Hütte begannen Marios Hände richtig weh zu tun. Das Massieren der
Finger nützte nichts. »Packt alle eure Sachen zusammen. Wir müssen sofort aufbrechen!«,
befahl Alex. Er erklärte, sie müssten mit Mario in Sulden so rasch wie möglich einen
Arzt aufsuchen oder, noch besser, ihn direkt ins Krankenhaus nach Meran bringen,
wo man ihn richtig behandeln könne.
Die Tour
nahm ein trauriges Ende. Mario saß hinten im Auto und stöhnte vor Schmerzen und
nun auch vor Angst. Im Krankenhaus in Meran begleitete ihn Francesco in die Notfallstation,
während die andern in der Cafeteria warteten. Der behandelnde Arzt stellte Erfrierungen
zweiten Grades fest und bat ihn, nicht mit den anderen weiterzufahren. Er müsse
einige Tage im Spital bleiben und sich behandeln lassen, damit kein Dauerschaden
entstehe, lautete der Bericht, den Francesco den anderen überbrachte. Ada versprach,
mütterlich besorgt, den bedauernswerten Mario, sobald er entlassen werden könne,
in Meran mit dem Auto abzuholen.
Alex hatte, das musste man ihm zugute
halten, alle sicher auf den Angelus geführt und sich nun auch um Mario gekümmert
und ihn noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht. Der für August ungewohnte Kälteeinbruch
in den Bergen war nicht vorauszusehen gewesen. Trotzdem fragte sich Eva auf einmal:
Hätte Alex nicht besser
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