Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
oder gar gefährlich
gewesen. Alex kam ihr fremd vor. So fremd wie nie zuvor. Dass der Lärm ihn aus dem
Gleichgewicht gebracht hatte, konnte sie begreifen, aber die Art und Weise, wie
er sich dem Gastwirt gegenüber verhalten, wie er plötzlich getobt hatte und beinahe
handgreiflich geworden wäre, fand sie unzumutbar, und das bedrückte sie. So durfte
man mit gastfreundlichen Menschen nicht umgehen.
Konnte er
eine solche Situation – zugegeben nicht gerade angenehm, doch es gab weit Schlimmeres
– nicht mit Humor nehmen und sich anzupassen versuchen? Und wenn sich dieser Jähzorn
– ja, das musste es sein, ohne jede Vorwarnung war dieses nicht zu bändigende Zorngefühl
aufgetreten – eines Tages gegen sie, Eva, richtete?
Irgendwo an einem Waldrand hielt
Alex an. Es war eisig kalt unter dem Sternenhimmel. Sie konnten nicht weit von der
Passhöhe entfernt sein.
Alex rumorte
im Kofferraum und zog ein blaues Himalaya-Zelt hervor. Im Nu hatte er es fachgerecht
aufgeschlagen, und sie konnten hineinschlüpfen. Eva zog sich ein Paar lange Hosen
und einen zweiten Pullover über. Trotzdem konnte sie nicht richtig warm werden.
Nach den Hunderten von Kilometern, die hinter ihnen lagen, war sie jedoch so müde,
dass sie bald einschlief.
Als sie im Morgengrauen durch die
unangenehme Kälte geweckt wurde, schlief Alex noch tief und fest. Sie lag still
unter der Zeltplane, fror und dachte über die schlimme nächtliche Szene im Gasthof
nach.
Eigentlich
sollte ich nach diesem Vorfall meine Sachen packen und abreisen, dachte sie. Sofort
und ohne ein Wort zu verlieren Alex verlassen und mir das nicht gefallen lassen.
Warum bringe ich immer noch einen Rest Geduld auf? Oder ist eben das Liebe:
immer wieder, trotz allem, verzeihen können, einen Menschen zu verstehen versuchen?
Alex erwachte
auf einmal, erstaunlicherweise gut gelaunt.
»Ich habe
auf der ganzen Reise noch nie so gut geschlafen wie diese Nacht«, erklärte er. »Es
ist schön, unabhängig zu sein und zu übernachten, wo es einem gerade passt. Warum
haben wir das Zelt nicht schon öfters benützt?«
Er musste
sich jedes Mal überwinden, in Hotels oder Gasthöfen nach einem freien Zimmer zu
fragen. Das hätte sie ihm immer gern abgenommen, aber er wollte ihr diese Aufgabe
nicht überlassen. In seinen Augen war dies Sache des Mannes.
»Ich hätte
nichts dagegen, im Süden bei schönem Wetter zu zelten«, sagte Eva. »Aber stell dir
vor, wie sehr wir in den Bergen gefroren hätten, jede Nacht – und die endlosen Regentage,
wenn alles feucht wird …«
»Wir könnten
ja noch eine, zwei Wochen an die Adria fahren, es ist nicht weit«, schlug Alex vor.
Eine seiner verrückten Blitzideen?
»Meinst
du wirklich, du würdest es unter all den Leuten aushalten? An einem überfüllten
Strand in der Sonne herumliegen und stundenlang faulenzen? In Liegestühlen in der
zwölften oder 17. Reihe, stell dir das bildlich vor! Das passt nicht zu dir. Die
Berge würden dir nach einem halben Tag fehlen. Das wäre weit schlimmer als eine
kurze Nacht in einem Gasthof direkt an der Passstraße zu verbringen.«
Eine Stunde später machten sie auf
der Durchfahrt bei Bekannten von Alex einen Anstandsbesuch, um dort, wie er sich
ausdrückte, »Beziehungen zu pflegen, die eines Tages wichtig sein könnten«.
»Wie sehe
ich denn aus«, flüsterte Eva entsetzt, als das Dienstmädchen mit weißem Häubchen
sie durch die vornehme Eingangshalle in den Salon führte. Sie hatte sich wieder
einmal nicht waschen können, und ihre Kleider waren zerknittert.
Man setzte
sich und machte Konversation, und die neue Freundin von Alex wurde in Augenschein
genommen.
»Wir sehen
ziemlich verwildert aus nach der langen Fahrt im Auto«, versuchte sich Eva zu entschuldigen.«
Als die
Dame des Hauses, eine elegante Frau um die 50, sich erkundigte, wo sie übernachtet
hätten, nannte Alex den Namen des Dörfchens oben am Brenner.
Eva hatte
zwar große Lust, die wahre Geschichte zu erzählen und noch ein bisschen auszuschmücken
und darüber zu lachen, aber sie schwieg, wollte Alex nicht bloßstellen und hoffte,
er würde sich dafür irgendwann bei ihr für sein unmögliches Verhalten entschuldigen.
Das tat
er natürlich nicht. Nie.
Eine knappe Woche später, am 21.
August 1968, drang die Nachricht vom Einmarsch der Russen in Prag ins idyllische
Dörfchen am Schlern. Beinahe hätten sie die dramatischen politischen Ereignisse
an Ort und Stelle miterlebt. Kein Wunder, dass der
Weitere Kostenlose Bücher