Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
dem ersehnten Gipfel.
Vier Jahre später kam auf der Expedition zum K2 ihr Ehemann Rolf Bae beim Abstieg
ums Leben.
Die kleinen,
zähen, tapferen Männer aus dem Volk der Sherpas, das vor 500 Jahren aus Tibet nach
Nepal auswanderte, können angeheuert werden und lassen sich als Träger oder Führer
einsetzen – bis zur Erschöpfung. Sie kennen sich aus mit den Achttausendern, sind
angenehme, stets lächelnde, fröhliche Begleiter, die jede Gefahr auf sich nehmen,
ohne zu klagen. Sie sind froh, ihre Familie durch diesen Verdienst ernähren zu können.
Und wenn die westlichen Bergsteiger mit letzter Kraft den begehrten Gipfel bestiegen
haben (oder hinaufgezogen worden sind!), kehren sie stolz nach Europa oder in die
USA zurück, erzählen von ihrem Erfolg, ihrem Triumph und von unglaublichen Strapazen
und wie sie über sich hinauswuchsen und den innern Schweinehund besiegten – und
werden von den Medien zu Helden hochstilisiert. Wenn man ihre Berichte genau liest,
merkt man bald einmal, was bei den großartigen Besteigungen tatsächlich geschieht.
Man muss warten, immer wieder warten, sich akklimatisieren (die Luft wird zunehmend
dünner), viel trinken – einen Liter Wasser für je tausend Meter Höhe, folglich vier
Liter auf 4000 Metern, acht auf dem Achttausender. Man liegt auf einer aufblasbaren
Isomatte und ruht sich aus, sitzt stunden-, tagelang herum, macht vielleicht Tagebuchnotizen,
lauscht nachts dem Heulen des Windes, kann kaum schlafen. Später, beim Aufstieg
ins nächste Lager setzt man einen Fuß vor den andern nach oben, atmet mühsam ein
und aus und ein und aus … Bis man eines Tages dann endlich auf dem Dach der Welt
steht. An einem extremen Ort. Und immer noch nicht genug hat.
Andererseits
sagte Gerlinde Kaltenbrunner, Bergsteigen sei für sie kein Sport, sondern ein Weg,
ein erfülltes Dasein zu leben.
Und die
Sherpas? Zugegeben, denen sind die fast übermenschlichen Anstrengungen kaum anzumerken,
die gefährliche Arbeit scheint ihnen nichts auszumachen. Sie bleiben immer freundlich,
bescheiden und hilfsbereit, sie sind ja friedfertige Buddhisten und werden zudem
mehr als anständig bezahlt. Am Schluss der Saison räumen sie, zynisch ausgedrückt,
den Berg auf und begraben die Toten, die zu schwer waren, hinuntergetragen zu werden,
in den Gletscherspalten.
Sie sind die
wahren Helden! Bereits 1950 waren es Sherpas gewesen, die Herzog und Lachenat gerettet
und unter Einsatz ihres eigenen Lebens vom Annapurna heruntergeschleppt hatten.
Jahrzehnte nach ihren Kletterferien
in den Dolomiten beobachtete Eva nachmittags in einem Restaurant, wie ein älteres
Ehepaar die Gaststube betrat. Der Mann, um die 70, führte seine Begleiterin – es
musste seine Frau sein – behutsam an einer Hand. Mit der anderen stützte sie sich
auf einen Stock. Er half ihr, sich zu setzen und den Mantel auszuziehen und bestellte
für sie einen Eisbecher und für sich einen Kaffee. Die Frau saß da, auffallend elegant
gekleidet, als ginge sie zu einem Fest, ihre Fingernägel waren rot lackiert. Sie
sagte kein Wort, schaute mit einem absolut unbeteiligten Blick ins Leere, und erst
jetzt merkte Eva, dass sie entweder schwer dement oder vielleicht durch einen Schlaganfall
behindert war und vermutlich nicht mehr sprechen konnte. Zufrieden wie ein kleines
Kind löffelte sie etwas unbeholfen ihr Eis, und ihr Begleiter reichte ihr aufmerksam
ein Papiertaschentuch, als sie sich bekleckste, und bestellte noch einen Kaffee,
diesmal für sie, mit besonders viel Milchschaum, wie er die Serviererin bat. Seine
liebevolle, geduldige Art, mit seiner Frau umzugehen, rührte Eva – und plötzlich
dachte sie: Solche Menschen wie er – das sind die wahren Helden, die Helden des
Alltags. War ein solcher Besuch in einem Restaurant mit einer Behinderten, die früher
eine ebenbürtige Ehepartnerin gewesen sein musste, nicht auch eine Art Abenteuer
wie eine Berg- oder Klettertour, mit Vorfreude, Aufregung, Schwierigkeiten, die
überwunden werden mussten, und einem Glücksgefühl, wenn man ohne größere Zwischenfälle
das Ziel erreichte?
Ein heller Sommermorgen mit tiefblauem,
fast südlichem Himmel. Die Gänse schnatterten früh und zogen auf dem Völser Weiher
ihre Kreise. Alex packte Kletterschuhe, Seile und Karabiner in den Taunus und meinte:
»Dieses schöne Wetter müssen wir unbedingt ausnützen.«
»Ich bin
heute müde, ich habe Muskelkater und kann kaum gehen«, klagte Eva.
»Ach, das
bisschen Muskelkater. Der vergeht dir am
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