Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
schnellsten beim Klettern.«
Sie frühstückten
in Wolkenstein auf der Terrasse vor dem Hotel »Continental«. Alex breitete die Dolomitenkarte
neben den Kaffeetassen aus und suchte einen Gipfel – nicht zu schwierig und nicht
zu weit entfernt. Oder einen Klettersteig im Grödner Tal?
»Ich hab’s«,
rief er, »den Latemar.«
Der Latemar,
wo Magdalena und Firmin – in Zuckmayers Roman »Salwàre oder Die Magdalena von Bozen«
– zu Tode gestürzt waren. Der Latemar, auf dem Bergriesen und die Hexe Stiona lebten
…
»Alex, ich
habe Angst vor dem Latemar, dieser Berg ist mir unheimlich, ich bin ein bisschen
abergläubisch.«
»Dummes
Zeug, vergiss die Literatur, reine Erfindung von Zuckmayer. Es ist eine harmlose
Tour ohne schwierige Kletterei. Wir brauchen nicht einmal ein Seil. Gerade richtig
für heute, damit wir nicht nur herumsitzen und faulenzen.«
In Welschenofen
mit dem hoch gelegenen Karersee, in dem sich der Latemar und die umliegenden Wälder
spiegelten, ließen sie das Auto stehen. Die Besteigung begann tatsächlich harmlos
mit einer Wanderung über hochgelegene Alpweiden. Die bizarren Zacken des Gipfels
schienen noch weit weg zu sein. Die Sonne brannte heiß. Eva spürte die Müdigkeit
vom Vortag noch in den Beinen, und das Atmen fiel ihr schwer. Schließlich, als der
Pfad immer enger und steiler wurde, über vulkanisches Gestein, bat sie Alex um eine
kurze Rast. Er behauptete, es sei besser, ganz langsam, Schritt für Schritt, ohne
Pause weiterzugehen.
»Wenn du
irgendwo absitzt, merkst du erst, wie müde du bist, und dann fällt es dir noch schwerer,
aufzustehen und weiterzugehen.«
Sie erreichten
den Grat, wo lange Traversen quer über zerklüftete, offene Schrägwände führten.
Immer wieder rutschte Eva aus und hatte auf einmal Angst vor dem Abgrund.
Ludwig Hohl
hatte dieses Gefühl mit einem einzigen Satz beschrieben: »… die Abgründe hören für
einen Alpinisten nie auf.«
Ihr schauderte,
wenn sie daran dachte, wie Grisi, der alte Knecht, vom Grat aus die beiden im Nebel
abgestürzten Geschwister irgendwo weit unten entdeckt haben musste. Vielleicht hier
in der Nähe? Ihre Fantasie konnte sie nicht abstellen, sie sah auf einmal überall
Gespenster, obwohl sich das Drama nur in einem Roman und höchstwahrscheinlich nicht
im richtigen Leben abgespielt hatte. Aber möglich hätte es trotzdem sein können.
Alex war
vorausgeklettert und verschwand zeitweise hinter einem Felsvorsprung. Mit Händen
und Füßen versuchte Eva ihm zu folgen, und ab und zu umgab sie eine schreckliche,
beklemmende Einsamkeit und Stille.
Endlich
der Gipfel! Heftige Windstöße brausten über den Grat. Die Sicht auf die umliegenden
Berge war beeindruckend. Eva knöpfte das alte Herrenflanellhemd, das sie trug, bis
zum Hals zu. In einem Kästchen am riesigen Gipfelkreuz befand sich das Gipfelbuch,
in das sie Datum, Namen und Herkunft eintrugen. Nicht mehr als ein halbes Dutzend
Bergsteiger hatten in diesem Sommer den Latemar »gemacht«.
Alex lachte
beim Abstieg über Evas übertriebene Vorsicht, die er als Zaghaftigkeit bezeichnete.
Der Latemar behielt für sie etwas Unheimliches, Magisches, und sie war froh, als
sie die leicht brüchigen Felsen hinter sich hatten und wieder aufrecht gehen konnten.
Bei Welschenofen
erreichten sie das Auto und konnten in einer altmodischen Spezereihandlung endlich
etwas zum Trinken kaufen. Wie oft waren sie auch diesmal ohne Proviant unterwegs
gewesen. Eva wäre gern im berühmten »Grand Hotel Karersee« eingekehrt, doch Alex
hatte dazu keine Lust.
»Ach, dieser
alte, noble Schuppen, in dem Sissi, die Kaiserin von Österreich, einmal Ferien gemacht
hat«, meinte er abschätzig.
Eva hätte
insistieren müssen, denn erst später erfuhr sie, dass auch Agathe Christie dort
mehrere Wochen verbracht hatte und die Handlung ihres Romans »Die großen Vier« zum
Teil im Karerseegebiet angesiedelt hatte. Die Räuber verstecken sich im Latemar-Labyrinth,
wo der Kriminalfall gelöst wird. Und auch Karl May hielt sich im Sommer 1902 längere
Zeit dort auf. Im imaginären Land des Tschamikun, das er in seinen Romanen beschreibt,
lassen sich Örtlichkeiten in der Gegend um den Karersee erkennen, wie etwa der »Kurierpass«
(Karerpass).
Auf der
Straße gegen Bozen zu fuhr ihnen ein bekanntes Auto entgegen.
»Das sind
die Manzonis mit Kind und Kegel«, behauptete Alex schon von weitem. Beide Fahrer
blieben mitten auf der Fahrbahn stehen, man stieg aus und begrüßte sich mit
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