Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
vor?
Im Nachhinein wusste sie es nicht mehr eindeutig. Möglich wäre es gewesen. Ebenso
gut hätte Alex einfach annehmen können, dass sie nach dem gemeinsam verbrachten
Klettersommer zusammengehörten, für immer, und sie geduldig auf ihn warten würde.
Nach der letzten Hochtour gab es keine Gelegenheit mehr, über eine mögliche gemeinsame
Zukunft zu sprechen, höchstens davon, dass Alex nun mindestens ein halbes Jahr in
der Wüste arbeiten müsse, ohne sie.
Eva sah
sich gezwungen, dringend eine Stelle anzunehmen und Geld zu verdienen, ihre Ersparnisse
waren aufgebraucht. Möglichst in der Nähe der Berge, wie Alex sich dies so sehr
wünschte. Sie erhielt nun wieder Briefe von ihm, selten zwar, er habe wenig freie
Zeit, schrieb er. Er bat sie wiederholt, auch für ihn Arbeit in der Schweiz zu suchen,
eine feste Anstellung als Geologe schwebe ihm vor. Sie begann eifrig, Bewerbungen
mit Alex’ Curriculum Vitae in seinem Auftrag an große Firmen und Institute zu verschicken
und sich darüber hinaus in Geduld zu üben.
Nach einigen Temporäreinsätzen nahm
sie spontan eine Stelle als Alleinsekretärin in einer Baufirma in Grindelwald an.
Als sie sich vorstellen ging, war es Oktober – ein milder, klarer, sonniger Herbstnachmittag.
Das berühmte Gletscherdorf zeigte sich an diesem Tag von seiner schönsten Seite.
Atemberaubend die Dreitausender, vor allem das Wetterhorn und der Eiger mit der
imponierenden Nordwand. Erinnerungen an Skiwochen in ihrer Jugend stiegen in Eva
auf, und sie freute sich wie immer über den singenden Tonfall der Einheimischen.
Der zukünftige Chef war ihr sympathisch, der Lohn höher als erwartet. Dass das Büro
sich tief unten im Tal, in Grindelwald Grund, befand, störte sie nicht. Noch nicht.
Anfang November
zog sie in ein möbliertes Studio in einem Neubau in der Nähe des Zentrums und freute
sich auf ihre neue berufliche Aufgabe. Nach wenigen Tagen schien das Dorf im Talkessel
immer kleiner zu werden. Sie fühlte sich zunehmend eingeengt, bedrängt von den Bergen,
die zum Greifen nah waren. Die Nachsaison hatte begonnen, eine Zeit der Ruhe im
Gletscherdorf. Viele Hotels und Restaurants wurden bis gegen Weihnachten geschlossen,
renoviert oder geputzt, die Einheimischen machten nun ihrerseits Ferien oder zumindest
eine wohlverdiente Pause vom Touristenrummel. Tote Hose, hieß diese Saison auch
– und man spürte es. Ausländische Gäste kamen kaum mehr nach Grindelwald, die Berg-
und Sesselbahnen fuhren nicht mehr. Auch kulturell wurde nichts mehr geboten, im
Kino liefen nur noch kitschige Heimatfilme. Das Dorf versank von Tag zu Tag mehr
in einen passiven, schlafähnlichen Zustand. Wo hätte Eva Anschluss finden, junge
Leute kennenlernen können? Sicher nicht am Stammtisch bei den einheimischen Männern,
die hier jeden Abend einen Jass klopften. Die Einheimischen schienen froh, einmal
unter sich zu sein und warteten geduldig auf Schnee für die kommende Wintersaison.
Nach einigen
Verwandtenbesuchen gab es für Eva nach der Arbeit nichts mehr zu tun. Sie unternahm
am Anfang Spaziergänge und am Wochenende ausgedehnte Wanderungen, doch das Wetter
machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Es regnete oft, überall versank sie
im Schlamm. Unterwegs waren die Einsamkeit und eigenartige Stille in den Bergen
verstärkt spürbar. Undurchdringlicher Nebel kam auf, und die Sonne zeigte sich kaum
mehr, selbst an schönen Tagen lag der größte Teil des Dorfs, vor allem Grindelwald
Grund, im Schatten der hohen, steilen Wände des Eiger.
Kein Sonnenstrahl
drang eines Tages mehr über den Mättenberg, ein Zeichen, dass der lange, düstere
Winter bevorstand. Es kam Eva vor, als würde die Sonne, wie in einem Roman von Ramuz,
nicht wiederkommen. Weltuntergangsstimmung. Sie saß ihre Stunden im Büro ab und
stellte nach einer Weile fest, dass sie tagelang kaum einen Menschen zu Gesicht
bekam. Der Chef tauchte jeweils nur kurz am Morgen oder Abend auf, um seine Post
durchzusehen und Briefe zu unterschreiben, und sie blieb allein zurück, beantwortete
Anrufe, erledigte Korrespondenz. Sie begann sich nicht nur zu langweilen, sie fühlte
sich einsam.
Wozu dieser
Rückzug in die Berge, ins Berner Oberland? Einzig Alex zuliebe hatte sie die Stelle
hier angenommen und wartete nun auf ihn, aber er konnte nicht kommen, noch nicht,
und von den Erinnerungen an den Sommer in Südtirol ließ sich auf die Dauer nicht
leben. Sie fühlte sich von Tag zu Tag mehr im Stich gelassen, verlassen in diesem
Nest am
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