Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
jedoch nicht einlösen.
Die Fünfzigerjahre – eine großartige
Zeit für den Alpinismus. Eva hörte und las als Schülerin unzählige Berichte über
Expeditionen in den Himalaya, über die Besteigung berühmter Achttausender, auf den
Mount Everest, den höchsten Berg der Welt, oder auf den Gipfel des Annapurna oder
Lhotse. Schweizer Bergführer wie Dölf Reist, Ernst Schmied, Jürg Marmet und Fritz
Luchsinger spielten wichtige Rollen als Pioniere. Immer wieder machten auch tollkühne
Besteigungen der Eigernordwand Schlagzeilen, und oft kam es zu tödlichen Unfällen
in den Bergen. Einen Berg bezwingen – eine Heldentat, glaubte sie.
Der Alpinismus
sollte, so wünschte man sich damals, begeisterungsfähige Menschen schaffen, die
für ihre Ideale etwas wagten, ja, unter Umständen dafür ihr Leben einsetzten. Bergsteigen
erhielt eine ethische Bedeutung als Gegengewicht gegen die Verflachung und den Materialismus,
als ein Weg zu sich. »Wenn nämlich Mensch und Berg sich begegnen, können große Dinge
geschehen«, schrieb der englische Dichter William Blake; der Satz wurde in jenen
Jahren oft zitiert.
Bergsteiger
und waghalsige Kletterer gehörten zu den wahren Helden ihrer Kindheit und Jugend.
Pioniere, denen sie nacheifern wollte – besonders als Mädchen, da weibliche Vorbilder
weitgehend fehlten. Manchmal bedauerte sie, nicht als Junge auf die Welt gekommen
zu sein.
Im Sommer 1955 schlug der Berg zu
(eine damals übliche Formulierung).
Sie kam
am 9. August mittags von der Schule nach Hause. Die Eltern schienen anders als sonst,
irgendwie bedrückt, und sie erfuhr, sie hätten soeben eine schlimme Nachricht erhalten:
Onkel Fritz sei mit seiner Seilschaft, einem deutschen Ehepaar, am Grüneckhorn (3860
m) von einem Schneebrett erfasst und in die Tiefe gerissen worden. Alle drei konnten
nur noch tot geborgen werden. Seit 32 Jahren hatte sich in Grindelwald keine solche
Tragödie in den Bergen ereignet. Onkel Fritz, Vater von vier unmündigen Kindern:
tot. Ausgerechnet er, der als absolut zuverlässig galt und nie ein unnötiges Risiko
in Kauf genommen hätte!
Diese unerwartete,
schlimme Nachricht prägte sich ihr tief ein. Nie vergaß sie, wie im Leben von einem
Moment zum anderen alles umschlagen kann, als hätten düstere Wolken sich vor die
Sonne geschoben: von einem ganz normalen Tag, an dem man ein Lied trällernd aus
der Schule heimkommt – in eine Tragödie.
Sie dachte
voller Mitgefühl an ihre Cousinen und Cousins, die nun auf einmal keinen Vater mehr
hatten; nur zu gut konnte sie sich in deren Lage versetzen, und das Herz tat ihr
weh. Am Morgen hatten sie nichts geahnt – und am Mittag waren sie Halbwaisen. Vaterlos.
Ein schreckliches Wort. Sie schaute ihren Vater an, den sie bewunderte und dem sie
nacheiferte. Nicht auszudenken, wenn er auf einmal nicht mehr da wäre …!
Eine Woche
später verunglückte der junge Bergführer Peter Schlunegger am Kleinen Schreckhorn,
ebenfalls tödlich. Es herrschten abnormale Wetterverhältnisse in jenem Sommer, hieß
es, doch das war weder ein Trost noch eine wirklich überzeugende Erklärung für die
vier tragischen Unglücksfälle.
Heute interessieren sich Jugendliche
für Popstars. Sie hingegen begann im Alter von etwa 14 Jahren mit roten Ohren und
heißen Wangen Literatur über Forscher und Bergsteiger zu verschlingen. Die Expeditionsberichte
und Alpinbücher aus der Volksbibliothek waren in braunes Papier eingebunden, die
Autoren alles Männer, was ihr damals selbstverständlich schien und sie (noch) nicht
störte: Es begann mit den Polarforschern Fridtjof Nansen, Roald Amundsen und Robert
Falcon Scott, die sie glühend verehrte. Dann folgten Bücher von Alpinisten wie Gaston
Rébuffat, Gustav Renker, Luis Trenker, Otto Zinniker, Oswald Frey, Arnold Lunn,
Adolf Fux, Lionel Terray, Dölf Reist, Maurice Herzog, Heinrich Harrer, Alfred Graber
und viele andere.
Dass Eduard
Whymper am 14. Juli 1865 zum ersten Mal das Matterhorn bezwang und Edmund Hillary
1953 zusammen mit Sherpa Tenzing Norgay als erste Menschen auf dem Mount Everest
standen, war ihr geläufiger als jedes Datum aus der Schweizer Geschichte, das sie
in der Schule auswendig lernen musste. Das waren echte Helden, schon zu Lebzeiten
Legenden, denen man nacheifern konnte!
Auch sie
wünschte sich, in unbekannte Gegenden aufzubrechen, etwas zu wagen, Abenteuer zu
bestehen, extreme Situationen zu bewältigen, zu kämpfen bis zur Erschöpfung, Gletscher
zu überqueren, die höchsten
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