Tödliche Täuschung
Sie besitzen eine Seelenstärke, die uns alle in Erstaunen versetzen muss, die uns Achtung abnötigt…«
»Mr. Sacheverall!«, unterbrach sie ihn kalt und rückte weiter von ihm ab. »Ich habe heute einen guten Freund verloren, noch dazu unter schrecklichsten Umständen, und es interessiert mich nicht, was Sie von mir denken, genauso wenig wie mich Ihr Mitgefühl interessiert. Bitte hören Sie auf, mir ständig Ihre Meinung aufdrängen zu wollen. Ich bin überzeugt davon, dass es dem Gericht ebenfalls lieber wäre, Sie würden mit Ihren Ansichten zurückhaltender sein.«
Er war sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet. Er nahm ihre Zurechtweisung jedoch mit Anstand hin, überzeugt davon, dass dieses Verhalten ihrem gegenwärtigen Zustand zuzuschreiben sei.
»Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen«, entschuldigte er sich und wandte sich dann wieder an das Gericht. »Ich habe mich durch meine Gefühle dazu hinreißen lassen, vorschnell zu sprechen.« Zu Rathbone gewandt, sagte er dann: »Ich werde mich natürlich mit meinen Mandanten beraten, aber ich denke, Mrs. Lambert wird gewiss der Überzeugung sein, dass der Charakter ihrer Tochter durch die Enthüllungen des heutigen Tages hinreichend von jedem Verdacht reingewaschen wurde. Niemand kann ihr in dieser Hinsicht auch nur das Geringste vorwerfen. Was die Gerichtskosten betrifft, so werden sie gewiss aus Mr. - Miss Melvilles Nachlass beglichen werden. Ich denke, um diese Dinge wird sich ihr Anwalt kümmern.«
Barton Lambert machte eine jähe Bewegung, als wolle er etwas sagen, aber Delphine hielt ihn energisch zurück.
McKeever warf einen wütenden Blick in die Runde. »Ich würde gern mehr darüber erfahren, was Miss Melvilles zu diesem außerordentlichen Schritt bewegen hat. Und ich denke, wir sollten Mr. Isaac Wolff die Gelegenheit geben, seinen Namen reinzuwaschen und seinen eigenen guten Ruf wiederherzustellen. Ich rufe ihn in den Zeugenstand.«
Für einen Augenblick herrschte Stille, dann fand der Gerichtsdiener seine Fassung wieder und rief mit ziemlich lauter Stimme Isaac Wolff auf.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Wolff aus dem hinteren Te il des Saals nach vorne gekommen war. Als er erneut die Stufen zum Zeugenstand erklomm, wäre er beinahe gestolpert.
»Mr. Wolff«, sagte McKeever mit seiner leisen Stimme. Im Raum war kein Laut zu hören. Auf der Galerie wagte es niemand, sich zu bewegen oder gar zu tuscheln. Die Geschworenen hatten den Blick auf Wolff geheftet, und ihre Gesichter drückten Mitleid und Verlegenheit aus. Weder Rathbone noch Sacheverall rührten sich. Alle lauschten gespannt auf McKeevers Worte.
»Mr. Wolff, es tut mir Leid, Sie noch einmal zu bemühen, obwohl Sie eine Zeit tiefster Trauer durchmachen«, sagte er.
»Aber ich habe das Gefühl, dass Sie der richtige Mann sind, um uns eine Erklärung geben zu können. Warum kleidete Killian Melville sich wie ein Mann und führte nach außen hin auch das Leben eines Mannes? Bevor Sie antworten…«, er lächelte kaum merklich; es war ein inneres Bedürfnis, das ihn antrieb, ein Gefühl, das er nicht unterdrücken konnte, »…ich möchte mich im Namen des Gerichts aufrichtig entschuldigen für den Vorwurf der Unzucht und jeden anderen Verbrechens, das man Ihnen oder Miss Melville hier zur Last gelegt hat.«
Ein Anflug bitterer Belustigung blitzte in Wolffs Augen auf , erreichte aber nicht seine Lippen.
»Vielen Dank, Mylord.« Seine Stimme war teilnahmslos. Ohne jemand anzusehen, suchte er nach Worten, um auf die Frage zu antworten. Sein Blick schien über die Köpfe der Galerie hinauszuwandern, aber was er vor sich sah, lag in seinem Inneren, in der Erinnerung. »Ihr wirklicher Name war Keelin, ihre Mutter war Halbirin. Sie hat die Schreibweise ein wenig verändert, sodass der Name ein wenig männlicher klang.«
Das Gericht wartete.
Er brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen. »Sie war außergewöhnlich«, begann er leise und mit brüchiger Stimme.
»Schon als Kind faszinierten sie schöne Gebäude jeder Art. Ihr Vater war ein passionierter Gelehrter und die Familie verbrachte viel Zeit im Mittelmeerraum - in Italien, Griechenland, Ägypten, Palästina. Keelin spazierte stundenlang durch die Ruinen der größten Städte auf Erden. Sie fertigte Skizzen vom Forum Romanum, von den Bädern Caracallas und natürlich dem Kolosseum an.«
Die Zuschauer im Saal hörten wie gebannt und ohne Wolff aus den Augen zu lassen zu. Rathbone sah sich diskret um. Die Gesichter der
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