Tödliche Täuschung
Zillah Lambert oder irgendein anderes Kind in ihrem Hause geboren wurde.
Etwa drei Jahre später waren sie umgezogen und hatten sich unter ihrer neuen Adresse niedergelassen - zusammen mit einem ausgesprochen liebreizenden Kind von etwa achtzehn Monaten, einem kleinen Mädchen mit großen Augen und rotgoldenem Haar.
Zillah war also ein Adoptivkind. Delphine hatte trotz ihrer Schönheit und ihrer Intelligenz später geheiratet als die meisten Frauen und war vielleicht nicht in der Lage gewesen, Kinder zu bekommen. Sie wäre nicht die einzige Frau, die von einem solchen Kümmernis betroffen war. Das hatte es zu allen Zeiten gegeben. Und nur allzu oft wurde der Schmerz noch durch öffentliche Geringschätzung verstärkt, durch jene Art Mitleid, in der immer auch eine Verurteilung liegt.
Hatte sie so spät geheiratet, weil sie eine ungerechte Zurückweisung erfahren hatte? Lagen die Wurzeln ihres Zorns auf Zillah in einer eigenen Erfahrung?
Plötzlich löste Monks Abneigung gegen sie sich in Mitgefühl auf. Kein Wunder, dass sie so wütend auf Melville und fe st entschlossen gewesen war, Zillahs guten Namen um jeden Preis zu verteidigen.
Vielleicht war er es Rathbone schuldig, ihm diese kleine Information zukommen zu lassen. Es würde ihnen nicht weiterhelfen, aber es war zumindest eine Geste der Höflichkeit.
Rathbone war mit einem Mandanten beschäftigt, als Monk gegen Mittag in der Vere Street ankam. Er musste fast eine halbe Stunde warten, bevor man ihn vorließ.
»Was haben Sie herausgefunden?«, fragte Rathbone sofort und ohne sich auch nur die Mühe zu machen, Monk einen Platz anzubieten.
»Nichts Wichtiges«, antwortete er leise und setzte sich, auch ohne dazu aufgefordert worden zu sein, auf einen Stuhl. »Zillah Lambert wurde adoptiert, als sie Anderthalb Jahre alt war. Es scheint, als hätte Delphine keine Kinder bekommen können. Sie war schon gut über dreißig, als sie Lambert heiratete. Das könnte erklären, warum sie so verzweifelt darum bemüht ist, dass Zillah eine gute Partie macht; warum sie so leidenschaftlich über ihren guten Ruf wacht. Sie weiß, was diese Dinge der Gesellschaft bedeuten.« Er fügte eine kurze Zusammenfassung seines Besuchs bei den Lamberts hinzu und ließ auch Sacheveralls plötzlichen Aufbruch nicht unerwähnt.
Rathbone benutzte ein Wort für Sacheverall, von dem Monk nicht gedacht hätte, dass er es überhaupt kannte, und das Sacheverall nicht gefallen hätte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte über den Schreibtisch hinweg ins Leere.
»Wenn wir nichts Besseres finden, wird die gerichtliche Untersuchung über Melville auf Selbstmord plädieren.« Er beobachtete Monk genau, und in seinen Augen stand eine deutliche Frage.
»Wahrscheinlich war es doch Selbstmord«, sagte Monk leise.
»Ich weiß nicht, warum sie es zu diesem Zeitpunkt getan hat , und ich weiß auch nicht genau, wie sie vorgegangen ist. Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren. Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, wie jemand es fertig gebracht haben könnte, sie zu ermorden. Und was plausibler ist - ich wüsste keinen Grund, warum jemand sie hätte töten wollen. Die Lamberts hatten nichts zu verbergen.«
11
Die gerichtliche Untersuchung im Fall Keelin Melville ging sehr still vor sich und fand in einem kleinen Gerichtssaal statt, der kaum Plätze für das allgemeine Publikum bot. Diesmal zeigten die Zeitungen nur geringes Interesse. Diese Untersuchung war lediglich eine gesetzlich vorgeschriebene Formalität, damit der Fall Melville zu den Akten gelegt und sogleich vergessen werden konnte.
Der Coroner war ein Mann von jugendlichem Aussehen, mit glatter Haut und blondem Haar, obwo hl sich schon die ersten grauen Strähnen darin zeigten, wenn das Licht auf seinen Kopf fiel. Um Augen und Mundwinkel zeigten sich bereits feine, kaum wahrnehmbare Linien. Rathbone war ihm schon bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet und wusste, dass er nichts übrig hatte für öffentlich zur Schau gestellte Gefühle; jede Art von Sensationslust war ihm zuwider.
Er begann den Prozess ohne Vorrede und rief als Erstes den Arzt auf, der Melvilles Totenschein ausgestellt hatte. Der Mann legte seine nüchternen medizinischen Fakten vor und wurde auch um nichts anderes gebeten.
Rathbone sah sich im Raum um. Er entdeckte Barton Lambert, der zwischen Frau und Tochter saß und doch seltsam einsam wirkte. Er blickte starr geradeaus und schien niemanden in seiner Umgebung wahrzunehmen. Nicht einmal
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