Tödliche Täuschung
absolut normal gewesen, und wenn sie sich geziemend gekleidet hätte, wäre sie eine gut aussehende Frau, ja auf ihre eigene Weise sogar schön gewesen. Bei dieser letzten Bemerkung sprach er sehr leise, und seine Stimme verriet große Traurigkeit.
Während seiner Aussage herrschte gedämpfte Stille im Saal. Jemand hustete. Eine Frau versuchte, ein nervöses Kichern zu unterdrücken, und erntete prompt böse Blicke. Verschiedene Zuschauer schienen peinlich berührt zu sein und gleichzeitig traurig über das tragische Ende dieser Frau.
»Und die Ursache von Miss Melvilles Tod?«, fragte der Coroner.
»Eine Belladonna-Vergiftung, Sir«, antwortete der Arzt, ohne zu zögern.
»Können Sie das mit Bestimmtheit sagen?«
»Absolut. Ich habe Spuren von Belladonna in den inneren Organen der Verstorbenen gefunden. Schon bei der Untersuchung der Leiche ließ alles darauf schließen, dass es sich um dieses Gift handelte.«
»Welche Anzeichen waren das?«
»Stark erweiterte Pupillen, außerordentlich trockene Haut, große Trockenheit im Mundbereich, ein gerötetes Gesicht. Bei der Untersuchung der Leiche während der Autopsie entdeckte ich auch eine Harnverhaltung und natürlich Herzversagen, beides Dinge, die mit der Einwirkung von Belladonna einhergehen.« Die Menschen im Saal rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen hin und her.
»Zu den Symptomen vor Eintritt des Todes gehört ein beschleunigter Herzschlag«, fuhr der Arzt fort. »Das Herz schlägt sehr laut, sodass man es sogar in einiger Entfernung von dem Patienten hören kann. Häufig wird der Patient aggressiv, verliert die Orientierung und leidet an Halluzinationen. Die Polizei hat mich informiert, dass ein oder zwei Gegenstände umgestürzt waren, was auf eine Trübung der Sicht schließen lässt.«
Rathbone saß mit hochgezogenen Schultern wie erstarrt auf seinem Platz. Er fühlte sich durch und durch elend bei dem Gedanken an Keelin Melville, wie sie voller Angst, halb blind und in dem Wissen, dass sie sterben würde, ihr eigenes Herz hämmern hörte, bis es schier barst.
»Ja… ja. Ich bestreite Ihre Schlussfolgerung nicht, Herr Doktor.« Der Coroner schüttelte den Kopf, und seine Stimme riss Rathbone aus seinen Gedanken. »Wenn Sie Belladonna in ihrem Körper vorgefunden haben, dann genügt das vollkommen. Wie lange vor Eintreten des Todes hat sie es zu sich genommen? Ich habe sie doch recht verstanden, dass sie das Gift eingenommen hat? Es wurde nicht injiziert, durch die Haut absorbiert oder eingeatmet?«
»Nein, Sir, es wurde geschluckt. Der Tod kann binnen einiger Stunden oder binnen Tagen eintreten, das hängt von der Dosis ab.«
»Und diese Dosis?«
Es herrschte absolutes Schweigen im Gerichtssaal. Rathbone sah sich nicht um, aber er konnte sich vorstellen, dass alle im Raum auf die Antwort warteten. Warum? Um zu erfahren, was sie schließlich dazu bewogen hatte, sich das Leben zu nehmen? Wollten sie den Augenblick wissen, in dem sie ihre Entscheidung fällte?
»Eine große Dosis«, erwiderte der Arzt und schürzte die Lippen. »Irgendwann im Verlauf des Nachmittags.«
»Sind Sie sich sicher? Hätte Miss Melville das Gift nicht nehmen können, nachdem sie wieder zu Hause war?«
»Nein. So schnell wirkt es nicht.«
»Oder vielleicht am Morgen, bevor sie ins Gericht kam?« Rathbone stellte fest, dass er seinen eige nen Pulsschlag hören konnte. War es möglich, dass sie das Gift so früh genommen hatte? War es wegen der Schande, die Wolff getroffen hatte? Oder hatte sie sich mit ihm gestritten?
»Nein, Sir«, sagte der Arzt bestimmt. »Wenn sie eine so große Menge davon am Morgen genommen hätte, bevor sie ins Gericht kam, hätte sie spätestens gegen Mittag unverkennbare Symptome gezeigt. Das hätte niemand übersehen können. Sie wäre am Nachmittag bereits tot gewesen.«
»Sind Sie sich in diesem Punkt ganz sicher?«, beharrte der Coroner mit besorgter Miene.
»Ganz sicher«, bestätigte der Arzt.
»Können Sie uns sagen, ob das Belladonna in flüssiger Form, als Pulver oder als Tablette oder zusammen mit einer Speise eingenommen wurde?«
»Ich kann Ihnen nicht sagen, ob es eine Flüssigkeit oder ein Pulver war, aber mit dem Essen hat sie es nicht zu sich genommen. Es befanden sich nur sehr wenige Speisereste im Magen. Aus dem Grund hat das Gift wahrscheinlich auch so schnell gewirkt.«
»Wo kann man Belladonna erhalten?«
Der Arzt zuckte die Achseln.
»Die Pflanze kommt an allen möglichen Orten in ihrer wilden Form vor. Jeder
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