Tödliche Täuschung
ungesetzlich war und auch nicht widernatürlich.« Er hätte beinahe gesagt ›nicht skandalös‹, aber da die beiden nicht verheiratet waren, gab es sicher viele, die ihre Affäre als einen Skandal bezeichnen würden. »So etwas ist jedenfalls nicht weiter ungewöhnlich«, sagte er stattdessen.
»In welcher Gemütsverfassung war sie, soweit Sie das beurteilen können, als Mr. Sacheverall Isaac Wolff in den Zeugenstand rief und ihn einer homosexuellen Beziehung mit Melville bezichtigte?« Die Stimme des Coroners war ziemlich frostig, und er vermied es, in Sacheveralls Richtung zu sehen.
»Sie war fassungslos«, antwortete Rathbone wahrheitsgemäß.
»Es hat sie sehr mitgenommen. Aber sie leugnete eine solche Beziehung mir gegenüber.«
»Haben Sie ihr geglaubt?«
»Ich… ich weiß nicht. Ich habe ihr weder geglaubt, noch habe ich es ihr nicht geglaubt. Ich war ganz mit dem Versuch beschäftigt zu retten, was sich noch retten ließ. Ich hoffte, dass ich vielleicht Miss Lambert überreden könnte, sich mit einer kleinen Schadensersatzzahlung zufrieden zu geben, damit Melville zumindest nicht finanziell ruiniert wäre, wo ihm in gesellschaftlicher und beruflicher Hinsicht nur noch Trümmer blieben.« Es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen. Sie schmerzten noch immer.
»Haben Sie mit Miss Melville über Ihre Hoffnungen gesprochen?«
»Natürlich.«
»Wissen Sie von irgendeinem Ereignis an jenem Nachmittag , das die Umstände so gravierend veränderte, dass sie in Verzweiflung geriet und sich das Leben nahm?«
»Mr. Sacheverall hatte am Morgen eine Prostituierte in den Zeugenstand gerufen. Die Frau hatte geschworen, dass die Beziehung, die sie zwischen Wolff und Melville beobachtet hatte, sexueller Natur sei«, erk lärte Rathbone verbittert. »Keine reine Freundschaft, wie Wolff und Melville selbst beteuert hatten. Aber wenn das den Ausschlag gegeben hat, dann hätte sie das Gift doch logischerweise während der Mittagspause eingenommen, und nach den Worten des Arztes hat sie das nicht getan.«
»Hat Miss Melville irgendwann einmal davon gesprochen , sich das Leben zu nehmen? Hat sie irgendetwas gesagt, das zumindest im Rückblick die Vermutung nahe legt, sie könne an Selbstmord gedacht haben?«
»Nein.« Rathbones Stimme wurde leiser. »Vielleicht hätte ich begreifen müssen, wie verzweifelt sie war, aber ich war zu der Auffassung gelangt, dass ihr die Kunst alles bedeutete - dass sie hätte weiterleben wollen, um diese Kunst auszuüben…. ungeachtet ihrer sonstigen Lebensumstände. Ich…. rückblickend habe ich mich sogar gefragt, ob sie nicht vielleicht ermordet wurde… aber ich wüsste nicht, auf welche Weise eine andere Person ihr das Gift hätte verabreichen können. Und ich sehe auch keinen Grund, warum jemand sie hätte ermorden wollen.«
»Ich verstehe. Vielen Dank, Sir Oliver. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie.«
Rathbone blieb, wo er war. Er wollte noch etwas sagen über diese völlig absurde Situation, die zu einer unnötigen Tragödie geführt und eines der größten Talente zerstört ha tte, die ihm je begegnet waren.
»Es hätte nicht passieren müssen!«, sagte er wütend. Er beugte sich ein wenig über das schmale Geländer des Zeugenstands und umfasste es mit beiden Händen. »Wenn auch nur einer von uns ein wenig mehr Vernunft an den Tag gelegt hätte, ein wenig mehr Barmherzigkeit, hätte sich das alles vermeiden lassen. Killian Melville könnte heute noch leben, könnte noch immer für uns und unsere Erben in dieser Stadt und diesem Land Schönheit erschaffen.«
Ein Raunen ging durch die Galerie, gefolgt von etwas, das sich vielleicht sogar als Zustimmung hätte deuten lassen.
Er beugte sich noch weiter vor. »Warum können wir den Frauen nicht erlauben, ihre Talente zu nutzen, ohne die Hunde auf sie zu hetzen und sie zurückzujagen, bis ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt, als in Männerkleider zu schlüpfen, um ihre wahre Stärke und Begabung beweisen zu können?«
Die Zuschauer auf den öffentlichen Bänken gerieten in Bewegung, und man hörte das Rascheln von Stoff. Die Leute fühlten sich unbehaglich.
»Warum erlauben wir den Menschen nicht, eine Verlobung zu lösen, wenn sie erkennen, dass es ein Fehler war«, fuhr er leidenschaftlich fort. »Warum unterstellen wir, dass einer der beiden Beteiligten eine furchtbare Verfehlung begangen haben muss? Warum ist es uns so wichtig, ob eine Frau hübsch ist oder nicht? Wenn wir nicht mehr wollen als einen schönen
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