Tödliche Täuschung
leise auf sein Pult. »Das Gericht vertagt sich.«
Monk verabschiedete sich nach einem denkbar kurzen Gespräch mit Rathbone. Es gab im Grunde nichts mehr zu sagen. Sie hatten beide im Voraus gewusst, wie das Urteil ausfallen würde, und ihr Kummer darüber würde nur schlimmer werden, wenn sie jetzt darüber sprachen. Sie hatten ihr Bestes gegeben, und es war nicht gut genug gewesen.
Er ging die Treppe hinunter auf die Straße und hielt den ersten Hansom an, der vorüberfuhr. Er nannte dem Fahrer die Adresse am Tavistock Square. Er wollte Hester persönlich über alles berichten, bevor sie es in der Zeitung las oder durch Dritte erfuhr. Außerdem würde der Angelegenheit jetzt, da sie nicht länger ein cause celebte war, nur ein kleiner Artikel auf einer der hinteren Seiten gewidmet sein. Möglich, dass Hester ihn nicht einmal bemerkte.
Und er wollte seinen Kummer mit einem Menschen teilen, der keine Erklärung benötigte und ihn verstand.
Er wurde wie gewöhnlich willkommen geheißen und in den Salon geführt. Diesmal brauchte er nicht lange auf Hester zu warten. Als sie eintrat und einen Blick auf sein Gesicht warf, wusste sie, warum er hier war.
»Ist es vorbei?« Im Kamin brannte ein kleines Feuer, und der Raum wirkte freundlich und sehr behaglich.
»Ja… es ist vorbei. Selbstmord.«
Sie sah ihn forschend an. Eine ganze Weile sagte sie nichts , sondern ließ diese Mitteilung auf sich einwirken.
»Wie geht es Oliver?«, fragte sie schließlich.
Er lachte verhalten. »Wirklich ungewöhnlich… ganz uncharakteristisch«, bemerkte er und fragte sich, ob er mit seinen Worten Recht hatte. »Er hat dem Gericht und der Öffentlichkeit gesagt, was er von den allgemeinen Vorurteilen hält; wie er dazu steht, dass die Gesellschaft Frauen an ihrer Schönheit und Fügsamkeit misst. Eine Feststellung übrigens, die den Coroner veranlasste, seine nicht gerade schmeichelhafte Meinung über Sacheverall kundzutun.« Er dachte mit heimlichem Vergnügen an dieses kleine Begebnis zurück.
Sie lächelte traurig. »Armer Oliver. Er ist nicht an so heftige Gefühle gewöhnt. Ich glaube, Killian Melville lag ihm mehr am Herze n als die meisten seiner Mandanten. Ich habe ihn nie so wütend gesehen.«
»Sie bewundern diese Eigenschaft, nicht wahr?«, bemerkte er. Er formulierte es als Frage, aber er wusste, dass es der Wahrheit entsprach. Er bewunderte diese Eigenschaft im Übrigen auch. Er hatte nichts übrig für Menschen, die Ungerechtigkeit kalt ließ.
»Wollen Sie es Gabriel erzählen?«, fragte sie mitten in seinen Überlegungen hinein.
»Ja… ja, das würde ich gern. Wie geht es ihm?«
»Besser«, erwiderte sie und sah ihm in die Augen. »Ich glaube, die Schmerzen sind in etwa unverändert. Das wird noch eine Weile so bleiben. Aber er hat jetzt etwas weniger Alp träume.«
»Perdita?«, riet er.
Sie lächelte. »Ja. Langsam…«
Er lächelte ebenfalls, weil er an Athol Sheldon dachte und den Ausdruck auf seinem Gesicht, als Perdita bei Monks letztem Besuch in diesem Haus mit ihm gesprochen hatte. Es war ein Kampf, den sie nicht so leicht gewinnen würde, aber zumindest war sie bereit, ihn aufzunehmen.
Hester ging an ihm vorbei durch die Halle und die Treppe hinauf zu Gabriels Zimmer. Sie klopfte an die Tür.
Perdita öffnete ihnen. Sie trug ein hellrosa Kleid, das in Weinrot abgesetzt war und sie trotz der schmeichelnden Farbe sehr ernst und sittsam aussehen ließ. Sie blickte an Hester vorbei zu Monk.
»Gibt es etwas Neues über Marthas Nichten?«, fragte sie sehr leise für den Fall, dass Martha vielleicht in der Nähe war und ihr Gespräch mithören konnte.
»Nein, Mrs. Sheldon, es geht um die gerichtliche Untersuchung im Fall Killian Melville.«
»Oh.« Sie zögerte nur einen Moment. Die alte Gewohnheit, Gabriel abzuschirmen, ließ sich nicht so leicht ausmerzen. Sie machte die Tür ein wenig auf, und die beiden folgten ihr in den Raum.
Gabriel saß auf dem Bett, war aber voll bekleidet. Es war das erste Mal, dass Monk ihn so sah. Er erschrak darüber, wie mager er war. Seinen leeren Hemdsärmel hatte er säuberlich hochgekrempelt und festgesteckt. Es würde mindestens ein halbes Jahr dauern, bevor er wieder so bei Kräften wäre wie vor seiner Zeit in Cawnpore. Monk war sich plö tzlich seines eigenen muskulösen Körpers bewusst und der Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, seiner Energie und der Kraft, die ihm so selbstverständlich erschien. So viele Dinge hingen vom Schicksal des Einzelnen ab. Er
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