Tödliche Täuschung
Anblick, können wir uns ein Bild kaufen und es an die Wand hängen! Und was tun wir?« Er machte eine weit ausholende Geste. »Wir schaffen eine Gesellschaft, in der die Menschen sich an das Gesetz wenden, statt einander die simple Wahrheit zu sagen. Und statt einer in die Brüche gegangenen Romanze - was weiß Gott wehtut, aber eine Erfahrung ist, die wir alle durchmachen - haben wir jetzt einen Skandal und öffentliche Schande und, was das Schlimmste von allem ist, wir haben ein Leben und eines der strahlendsten Talente unserer Generation zerstört. Und weswegen? Wegen eines Missverständnisses.«
Jetzt war die Unruhe auf der Galerie nicht mehr zu überhören, und im ganzen Saal wurde getuschelt und geflüstert. Sogar die Geschworenen steckten die Köpfe zusammen.
Sacheverall erhob sich mit hochrotem Gesicht von seinem Platz.
»Sir Oliver ist unaufrichtig, Sir, und ich kann nicht schweigend daneben sitzen und das zulassen. Er weiß so gut wie ich, dass einer jungen Frau ihr Ruf ungemein teuer ist. Ein Mann, der einem anderen Menschen seinen guten Ruf raubt, stiehlt ihm sein kostbarstes Gut… eines, das sich niemals mehr ersetzen lässt.« Er warf einen Blick auf die Geschworenen, - die Leute auf der Galerie interessierten ihn nicht. »Das ist kein falscher Wert. Es ist vielmehr ein sehr realer.«
Seine Miene drückte Verachtung aus, und er entfernte sich einen Schritt von seinem Platz. »Sir Oliver wäre einer der Ersten, der sich beklagt, wenn sein guter Name in Verruf geriete. Tatsächlich wird er nach seiner Niederlage in diesem Fall bald selbst entdecken, wie schmerzlich es sein kann, wenn die Menschen nicht mehr eine so gute Meinung von ihm haben wie früher.« Jetzt stand er unmittelbar vor dem Gericht, nur wenige Meter von Rathbone entfernt. Mit seiner Größe schien er den ganzen Raum vor dem Zeugenstand auszufüllen. Er gestikulierte heftig, was ihm noch mehr Beachtung eintrug. Alle Blicke im Saal waren auf ihn gerichtet, aber die Gefühle, die Rathbone auf den Gesichtern der Menschen sehen konnte, waren sehr unterschiedlich und sprachen keineswegs alle von Respekt.
»Es ist nur natürlich, dass es einem widerstrebt, einen Fall zu verlieren, vor allem, wenn es sich um eine so dramatische Niederlage handelt, wie wir es bei diesem Prozess erlebt haben.« Sacheverall bedachte Rathbone mit einem flüchtigen Lächeln.
»Aber dem Ganzen liegt doch an erster Stelle seine Fehleinschätzung zu Grunde, nämlich die, die dazu geführt hat, dass er diesen Fall überhaupt annahm. Jetzt sucht er die Schuld bei den anderen.« Er hob die Arme, um alle Anwesenden in seine Worte mit einzubeziehen. »Das ist absolut ungeheuerlich! Uns trifft keine Schuld, in keiner Weise! Killian Melville hat sich dafür entschieden, sich widernatürlich zu benehmen, ihr Frausein zu leugnen und zu versuchen, einen männlichen Beruf auszuüben, aus dem man sie selbstverständlich ausgeschlossen hatte, hätte sie nicht zu derart betrügerischen Mitteln gegriffen.«
Neuerliche Erregung ging durch den Saal, aber Sacheverall ignorierte es. Er ignorierte auch die zunehmend finster werdende Miene des Coroners, dessen fest zusammengepresste Lippen und die gerunzelte Stirn.
»Sie hat auch Barton Lambert hintergangen, ihren Freund und Wohltäter, der ihr vo n Anfang an nur Güte und ein Vertrauen entgegengebracht hat, dessen sie sich nicht würdig erwies und das sie nicht erwiderte.« Er deutete voller Verachtung auf Rathbone. »Wenn Sir Oliver sich jetzt beklagt und die Gesellschaft im Allgemeinen verantwortlich machen will, zeigt das nur seine eigene Charakterschwäche. Es beweist, dass er, statt aus seinen Fehlern zu lernen, sie noch verschlimmert.«
Der Coroner war so wütend, dass er kaum wusste, wie er beginnen sollte.
»Mr. Sacheverall«, sagte er laut und sehr deutlich. »Ich glaube, Sir Oliver hat sich bei seinen Vorwürfen gegen die Gesellschaft mit eingeschlossen. Vielleicht hat es Ihre eigene Verwicklung in diese Ereignisse nicht erlaubt, seinen Worten mit der Aufmerksamkeit zu lauschen, die ihnen meiner Meinung nach zugekommen wäre. Ich habe gehört, was heute hier gesagt wurde, und falls nicht noch Beweise beigebracht werden, die dem widersprechen, kann ich Sir Oliver nur Recht geben, dass der Tod Killian Melvilles eine Tragödie war, die sich hätte vermeiden lassen. Und wenn Sie jetzt andeuten, dass Miss Melville verdorben war und dass sie Mr. Lambert böswillig hintergangen hat, finde ich Ihre Bemerkung ungerechtfertigt
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