Tödliche Täuschung
Phemie!«
12
Monk bedankte sich bei den Fischern. Für sie war die Tat an sich Lohn genug. Die Männer halfen ihm noch, einen Hansom zu finden und die beiden verängstigten Mädchen hineinzuschaffen. Außerdem sorgten sie dafür, dass Monk genug Geld hatte, um die Fahrt bis zum Tavistock Square zu bezahlen.
Es war spät am Nachmittag, und es regnete immer noch heftig. Sie waren alle schmutzig und zitterten vor Kälte.
Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, an die Hintertür zu gehen, aber Monk war so von seinem Triumph erfüllt, dass er nicht einmal daran dachte. Er entlöhnte den Fahrer und half den Mädchen beim Aussteigen. Er hatte sich bisher überhaupt noch keine Gedanken gemacht, was Martha mit ihnen anfangen würde oder wie Gabriel Sheldon auf zwei so zerlumpte Geschöpfe reagieren würde, die man ihm so unangemeldet in sein Haus brachte.
Während der ganzen Fahrt von den Surrey Docks durch die Stadt hatte er versucht, die Mädchen zu beruhigen, obwohl er die schockierende Erkenntnis, dass Delphine Lambert Dolly Jackson gewesen sein musste, keine Sekunde lang vergessen konnte. Den Aufruhr der Gefühle in ihrem Herzen konnte er kaum erahnen! Jetzt schob er alle Gedanken an sie beiseite, klopfte an die Tür und blieb dann reglos stehen, einen Arm um jedes der Mädchen gelegt. Sie waren mager und unterernährt, kein Vergleich mit Zillah Lambert. Aber andererseits war Zillah auch keine Blutsverwandte, so weit er wusste.
Es war Martha Jackson, die die Tür öffnete. Zuerst erkannte sie Monk nicht, geschweige denn die beiden jungen Frauen bei ihm. Ihr Gesicht verriet Müdigkeit und Ungeduld, in die sich jedoch auch Mitleid mischten.
»Wenn Sie zur Küchentür gehen wollen, wird die Köchin Ihnen eine Tasse warme Suppe geben«, sagte sie kopfschüttelnd.
»Miss Jackson«, erwiderte Monk klar und deutlich. Dann grinste er sie unwillkürlich an. Er hatte vorgehabt, zumindest eine Spur Würde und Reserviertheit an den Tag zu legen. »Das sind Ihre Nichten Leda und Phemie.« Er hatte noch immer die Arme um die beiden gelegt. »Sie haben Schlimmes durchgemacht und sind durchgefroren, hungrig und verängstigt, aber ich habe ihnen erklärt, dass sie nach Hause kämen und dass Sie sich sehr freuen würden, sie zu sehen.«
Martha starrte ihn einfach nur an - außer Stande, seine Worte zu begreifen oder gar zu glauben. Sie betrachtete die beiden Mädchen vor sich, deren Augen groß vor Staunen geworden waren; sie wagten es offensichtlich nicht zu hoffen, dass Monks Worte wahr sein könnten. Sie waren müde vor Erschöpfung, außerdem hatten sich in den letzten Stunden ihres Lebens die Ereignisse förmlich überschlagen. Und sie hörten auch nur einen Teil von dem, was gesagt wurde. Sie brauchten das Mienenspiel eines Gesichts, das sie deuten konnten. Man musste, wenn man mit ihnen redete, sehr langsam und deutlich sprechen.
Martha betrachtete sie, als wolle sie ihre Züge unter dem Schmutz erforschen, dann weiteten sich ihre Augen langsam und füllten sich mit Tränen.
»Phemie?«, sagte sie und schluckte. »Leda?«
Die beiden Mädchen, die sich noch immer an Monk klammerten, nickten.
»Ich bin… Martha… Ich bin die Schwester eures Papas.« Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»M… Martha?«, sagte Phemie unbeholfen. Ihre Stimme war nicht unangenehm, aber das Sprechen fiel ihr schwer, da niemand sich die Zeit genommen hatte, sie zu lehren, wie sie ihre Behinderung meistern konnte.
»Das ist richtig«, ermutigte Monk sie. Er sah Leda, die Ältere , an, die, wie er bereits wusste, die Ernstere von beiden war.
»M… Martha?« Leda gab sich größte Mühe und fuhr sich beim Sprechen mit der Zunge über ihre missgestalteten Lippen.
Martha lächelte ihr unter Tränen zu, machte instinktiv einen Schritt nach vorn und blieb dann jäh stehen. Man konnte ihr ansehen, dass sie Angst hatte, etwas zu überstürzen. Die beiden kannten sie nicht. Vielleicht wollten sie nicht von einer Fremden berührt werden… und bisher war sie genau das für sie, eine Fremde.
Phemie streckte langsam die Hand aus.
Martha umfasste sie sanft und hielt dann ihre andere Hand Leda hin.
Einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen. Hinter dem bis auf die Haut durchnässten Mann, dem das Haar in dunklen Strähnen am Kopf klebte, fuhren Kutschen und Droschken spritzend durch die Pfützen der Straße. Die beiden ausgezehrten, zerlumpten jungen Frauen, deren Haare wie Rattenschwänze aussahen, standen
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